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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

und hat sich außer seiner Königin mit einem einzigen Unterthan begnügen müssen.

Nun komme ich auf eine Plauderstunde zu Dir, liebstes Herz, die Männer sind spazieren gegangen, Kathi hat ihren Ausgang, ich und das Miezchen hüten das Haus. Draußen eine so stille, klare Wintersonne, wie es in mir still und klar aussieht nur um viele Grade wärmer. Und in der Ecke des Wohnzimmers, wo mein Schreibtisch steht, sieht's aus wie in einer tropischen Gartenlaube, zwei schöne Palmen, herrliche Orchideen, dazwischen duftet ein Rosenstrauch mit vielen halbaufgeschlossenen Blüten – Maréchal Niel!

Du hast mich wohl nicht im Verdacht, daß ich mir diesen Luxus von erspartem Wirtschaftsgelde angeschafft habe oder daß Hellmuth so unvernünftig gewesen sei, mir eine so ausschweifende Weihnachtsbescherung zu machen. Die ganze Herrlichkeit kommt von Dimitri. Wir hatten ihn, als wir ihn zum Heiligabend einluden, geloben lassen, daß er uns nicht beschenken wolle. Eine Blume wird aber doch erlaubt sein, Matuschka? hatte er errötend gefragt. Das konnten wir ihm nicht abschlagen, und so hat er die Erlaubnis mißbraucht. Ich war ernstlich böse. Aber da ich seine kindliche Freude sah, meinen kahlen Arbeitswinkel so herrlich geschmückt zu sehen, mußte ich wohl Gnade für Recht ergehen lassen.

Diese Russen sind geborene Verschwender, mit ihrer Gesundheit wie mit ihrem Gelde. Denk' nur, der Kathi hat er zu Weihnachten eine goldene Uhr geschenkt. Das gute Tier hat vor Freude fast den Verstand verloren, zumal sie heimlich in den Geber verliebt ist, seit er ihre Dampfnudeln für die Blüte der Kochkunst erklärt hat.

Nun aber muß ich Dir doch endlich erzählen, wieso ich diesem guten, kindlich harmlosen Menschen in einer sehr ernsten Sache ewigen Dank schuldig geworden bin.

Es war im November, an einem sehr melancholischen Regentage. Mein Mann war über Land gerufen worden, ich hatte noch stundenlang auf ihn zu warten. Um der grauen Oede in mir und um mich zu entfliehen, nahm ich ein Buch aus seiner Bibliothek, dessen Titel mich schon lange reizte, obwohl Hellmuth mir gesagt hatte, es sei griechisch oder böhmisch für mich – „Kants Kritik der reinen Vernunft“. Also uns Frauen traut man das Verständnis für „rein Vernünftiges“ nicht zu! dacht’ ich in meinem gekränkten Selbstgefühl und wollte meinen hochmütigen Herrn Gemahl damit überraschen, daß ich dies Buch zu meiner Lieblingslektüre erwählte.

Ich war aber nicht weit darin gekommen, so merkt’ ich, daß er mit seinem Abraten nur allzu sehr recht gehabt hatte. Kaum eine ferne Ahnung dämmerte mir auf, was es mit den philosophischen Kunstausdrücken a priori, synthetisch, analytisch usw. für eine Bewandtnis habe, und nachdem ich mir eine Weile vergebens den Kopf zerbrochen hatte, überkam mich ein so unselig hilfloses Gefühl, wie ein Kind, das sich in einen wilden Wald gewagt hat und, da es nicht aus noch ein weiß, sich auf einen Stein niedersetzt und zu weinen anfängt.

Da ging die Thür auf und Dimitri trat ein. Er wollte Hellmuth in einer wissenschaftlichen Frage zu Rate ziehen, denn jetzt fing er wieder an, sich leicht zu beschäftigen. Als er mich mit nassen Augen über dem Buche sitzen sah, fragte er erst scherzend, welcher Roman mich so tief gerührt habe.

Ich konnte nicht ausweichen, wollte es auch nicht. Es war mir eine zu große Wohlthat, endlich einen Menschen zu finden, dem ich meine Not klagen konnte, – da ich, wie Du weißt, meinen Mann damit verschone, – einen Menschen, der mir vielleicht helfen konnte.

Er hörte mich mit der ernstesten Teilnahme an. „Ja, Matuschka,“ sagte er endlich, „Ihr Gemahl hat recht, dies Buch wird Ihnen vielleicht für alle Zeit ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Es giebt auch unter Männern, die sonst im methodischen Denken geschult sind, nicht allzu viele, die in den Geist des Weisen von Königsberg bis zur letzten Tiefe eindringen. Aber auf dem Wege zu diesem Gipfel liegen viele Punkte, die auch für eine nachdenkliche Frau zu erklimmen sind, wenn sie ihren Geist nur beharrlich trainiert, wie es Alpenwanderer mit ihrem Körper thun müssen. Es würde mir die größte Freude sein, wenn ich Ihren Führer dabei machen dürfte – vorausgesetzt, daß Ihr Gemahl damit einverstanden ist. Denn eine so hohe Meinung er von Ihnen hat, er könnte doch auch zu den Männern gehören, die glauben, allzu angestrengtes Grübeln über die Welträtsel streife den Schmelz von einer Frauenseele.

Du begreifst, Liebste, wie mich diese Worte glückselig machten zumal ich Hellmuth kannte, daß er mir in meiner inneren Entwicklung alle Freiheit ließ. Und als er abends heimkehrte und sich an einem heißen Grog ein wenig restauriert hatte, trugen wir – ich hatte Dimitri nicht fortgelassen – ihm unseren Studienplan vor. Der Gedanke, daß ich mir ein Privatissimum über Geschichte der Philosophie lesen lassen sollte, kam ihm zuerst etwas abenteuerlich vor. Als ihm aber Dimitri auseinandergesetzt hatte, wie er es damit meine, leuchtete ihm die Sache sehr ein und er bedauerte nur, daß er selbst nie Zeit gehabt hatte, meinem „geistigen Hunger“ die rechte Nahrung zu suchen.

Freilich erfuhr er jetzt zuerst, wie lange ich schon mit Schmerzen empfunden hatte, daß auch die Frau nicht vom Brot allein lebt.

Und nun begannen gleich am folgenden Nachmittag unsere „Trainier-Uebungen und wurden ohne Unterbrechung täglich fortgesetzt. Eine neue Welt ging mir auf, als ich erfuhr, wie in den frühesten Zeiten der griechischen Welt weise Männer sich bemüht hatten, die ungeheure Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter ein Prinzip zu sammeln, einen Urquell nachzuweisen, aus dem alle Dinge durch Mischung und Sonderung sich herausgebildet hätten, wie sie damit vom rein Sinnlichen begannen, erst das Wasser, dann die Luft oder Erde und Feuer als den Urstoff der Welt bezeichnend, dann zu geistigeren Anschauungen fortschritten, Liebe und Streit, sogar die scheinbar so unsinnliche Zahl als das weltbildende Prinzip hinstellten, und so immer höher hinauf, bis zu den Ideen des Plato.

Nie im Leben habe ich eine größere innere Befriedigung gefühlt, als da mir nach und nach so viele dunkle Begriffe gelichtet wurden, ich das Erwachen des Menschengeistes aus dem anfänglichen unbeholfenen Tasten zu immer sichrerer Erkenntnis an mir selber nacherleben durfte und nun große Namen, die in der allgemeinen „Bildung“ nur Schatten geblieben waren, mit klaren Zügen leibhaftiger Verkörperung vor mich hintraten. Auch die ewigen Probleme des Weltzusammenhanges, die noch heute die scharfsinnigsten Denker beschäftigen, verloren ihr unheimliches Ansehen, da ich sie in ihrem embryonischen Beginn, dann in ihrer naiven Jugendentwicklung betrachten durfte. Ich will nicht sagen, daß ich alles sogleich begriff und nichts mißdeutete. Aber das Ringen nach Verständnis war doch nicht mehr unfruchtbar und hoffnungslos und ich durfte den herrlichen Stich der „Schule von Athen“, der über dem Arbeitstisch meines Mannes hängt, ohne allzu tiefe Beschämung bedachten, da die einzelnen Gestalten darauf nicht mehr mich an meine Unwissenheit erinnerten.

An jedem Vormittag, wenn ich mein Hauswesen besorgt hatte, arbeitete ich das Pensum schriftlich aus, das wir am Tage vorher absolviert hatten.

Der neuen Lektion ging dann die Vorlesung des „Protokolls“ voran. Dimitri hatte nur selten einen Irrtum zu berichtigen, was mich nicht wenig freute.

„Hören Sie, Frau Meta,“ sagte er neulich, „wenn wir mit dem ganzen Kursus durch sind, müssen Sie mir Ihr Heft geben. Ich redigiere es dann noch ein wenig und ergänze hie und da eine Lücke, denn ich bin der Meinung, es eigne sich dazu, gedruckt zu werden. Was Ihnen wertvoll gewesen, sollte noch so manchen Ihres Geschlechts erwünscht sein, zur ersten Einführung in ein Gebiet, das Frauen sonst verschlossen zu bleiben pflegt.

Ich stimmte ihm natürlich mit Freuden bei, nur sollte er seinen Namen dazu geben. – „Es würde dann höhere Ansprüche auf wissenschaftlichen Wert machen,“ versetzte er. „Ich dächte, wir betitelten das Büchlein ,Ein Privatissimum über Geschichte der Philosophie für Frauen, nachgeschrieben von Matuschka'. Wir lachten beide und ich sagte: „Wer weiß, ob die Studentin Ihre gute Censur auch verdient, wenn wir in die neuere Zeit gelangen, z.B. nur bis Spinoza vor dessen Philosophie ich stets, ich weiß nicht warum, eine Art Furcht gehabt habe wie vor einem bodenlosen Abgrund, da er für einen Gottlosen verschrieen wird, der selbst so klare Denker wie Lessing verführt habe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_795.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)