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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

drei Tagen Berlin verlassen müsse; er war von einem reichen Manne dorthin berufen worden, der ihn bei einem leichten Erkranken auf der Reise durch seine Stadt kennengelernt und ein so großes Zutrauen zu ihm gefaßt hatte, daß er in einer neuen Krankheit ihn wieder zu Rate ziehen wollte, und seine Freunde und Studiengenossen hatten die Gelegenheit wahrgenommen, ihn zu einem Vortrage im Verein zu werben, nach drei kurzen Tagen also – verließ er mich als mein Verlobter.

Du kannst denken, daß ich ihm nichts verschwieg, was ihn, den schon reifen Mann – er ist zwölf Jahre älter als ich – von diesem leichtsinnigen Jugendstreich abschrecken konnte, meine Armut (die schöne Aussteuer, die ich mir selbst gemacht hatte, war längst mit ihrem großen Schrank verkauft worden), meine konfuse Bildung, meinen Hang zum Grübeln, der mich wohl nicht befähigte, ihm eine immer heitere Lebensgefährtin zu werden. Er lächelte zu dem allen und erwiderte, auch ich würde als Frau eines Armenarztes in einer bayrischen Mittelstadt kein großes Los ziehen. Und dann fügte er so liebevoll überschätzende Worte hinzu, daß mir ein Glücksgefühl heiß wie nie übers Herz lief und ich so unbedenklich mit zugedrückten Augen den Sprung ins Dunkle machte, wie wenn sich mir die Pforten des Paradieses aufgethan hätten.

Ich habe es keine Stunde meines Lebens zu bereuen gehabt, in dem ganzen Jahre, das wir nun verbunden sind. Und wenn mich doch oft genug an der Seite dieses besten Mannes, der mich auf Händen trägt, ein Ungenügen quält. Du wirst mich nicht für eine der unersättlich begehrlichen Närrinnen halten, die das schönste Glück sich durch bloße Grillen aber hochfahrende Ansprüche verbittern, oder gar für eine jener weiblichen Karikaturen die sich selbst „unverstandene Weiber“ nennen und mit ihrem wahren Namen unverständige und unausstehliche heißen sollten. Was mir fehlt, ist Arbeit, harte, rechtschaffene geistige Arbeit im Schweiße meines Angesichts. Mein Herz sitzt an voller Tafel, mein Geist hungert nach wie vor. Vielleicht ist das eine Krankheit, aber sie zehrt nun einmal an meiner innersten Natur und ist nicht mit kleinen Palliativmitteln zu heilen.

Laß Dir das noch ein wenig näher erklären.

Als ich meinen Mann heiratete, diesen Mann, glaubte ich, nun sei alles gewonnen, was ich je ersehnt hatte. Er wüßte alles, vor seinem klaren Auge konnte keines der Welträtsel sich in seine Schleier hüllen und da wir als Mann und Frau keine Geheimnisse voreinander hatten, würde mir in der geistigen Gütergemeinschaft, in der wir lebten, alles zufallen, wonach ich nur je Verlangen getragen.

Ich mußte bald erkennen, daß dies eine Illusion gewesen, die aus inneren und äußeren Ursachen sich nicht verwirklichen konnte.

Zunächst, weil er beim besten Willen mir nicht so viel von seinem Leben widmen konnte, wie ich hatte und bedurfte. Jean Paul, wenn ich nicht irre, hat einmal gesagt, der Unterschied der Liebe bei den beiden Geschlechtern bestehe darin, daß das Weib in einem fort liebe, während der Mann dazwischen zu thun habe. Ich halte das für einen jener geistreichen Sprüche, die nur zur Hälfte oder zu einem Drittel wahr sind. Auch das Weib, wenn es nicht ein ganz stumpfsinniges, geistesarmes Wesen ist, hat „dazwischen“ zu thun, und wäre es nur zu lachen, zu waschen und ihre Kleider zu flicken, was bei der leidenschaftlichen Natur schwerlich von einem ununterbrochenen Liebesgefühl begleitet sein wird. Wo aber zwei Menschen mit höheren geistigen Anlagen sich fürs Leben angehören, wird es die Frau sich nicht nehmen lassen, sich zu einem vollen Menschen auszubilden, in dem keine seiner Geistes- und Seelenkräfte schlummern oder neben dem thätig wirkenden Manne ein bloßes Schattendasein führen.

Nun sah ich meinen Mann dermaßen von seinem Beruf in Atem gehalten, daß für mich nur die kurzen Pausen übrig blieben, die mit unseren hastigen Mahlzeiten ausgefüllt wurden. Auch in diesen Ruhestunden gehörte er nur halb mir an, die Gedanken an seine Patienten ließen ihn oft nicht los, und am Abend, wenn alle Besuche hinter ihm lagen, war er meist so erschöpft, daß es grausam gewesen wäre, wenn seine Frau ihm zugemutet hätte, nun noch für ihre Bildung zu sorgen.

Unser junger, kleiner Haushalt machte mir nicht viel zu schaffen, obwohl ich überall selbst mit angriff. Dann kamen die langen Stunden, wo ich über mir allein saß und in den Büchern meines Mannes herumstöberte, „ob etwas käme und mich mitnähme“. Es waren meist medizinische Werke, die ich nicht zu lesen begehrte. Einige historische, die ich schon kannte. Dann philosophische, die ich zuerst mit heller Freude in die Hand nahm, da ich glaubte, hier hätte ich endlich den Schlüssel gefunden, der mir die Thore zu den Geheimnissen der Unter- und Oberwelt öffnen würde. Aber ich merkte bald, daß meine Hand zu schwach war, ihn zu gebrauchen. Die Sprache, in der die meisten geschrieben waren, klang wie eine Art Geheimsprache die nur solche leicht sich aneignen können, die mit Griechisch und Latein vertraut sind. Und selbst, wo die Dichter sich Mühe geben, in der allgemeinen Menschensprache zu reden, versagte mir bald das Verständnis. Wir waren ja nie dazu angehalten worden, eine strenggegliederte Kette von Schlüssen zu verfolgen, unter dem Vorwande, unser Gehirn sei zu schwach dafür. Als ob selbst das stärkste Gehirn nicht auch einer geistigen Gymnastik bedürfte, um schwereren Aufgaben gewachsen zu sein. Und was den Mangel an natürlicher Logik betrifft, den man uns vorzuwerfen pflegt, wie oft hatte ich im Disput mit Männern erfahren, daß auch viele von ihnen mit dieser edlen Gabe der Götter nicht eben reichlich gesegnet sind, da sie sich der Mühe überhoben glauben, uns mit Gründen zu überzeugen, wenn wir unsere Menschenrechte verteidigen, und nicht imstande sind, unsere Gründe zu widerlegen.

Ich hatte Tage, wo ich in meiner drückenden Unthätigkeit wahrhaft verzweifelt herumging.

Die leeren Stunden durch Geschwätz mit Nachbarinnen auszufüllen, konnte mir schon darum nicht in den Sinn kommen, weil wir sehr zurückgezogen lebten. Der Beruf meines Mannes und unsere beschränkten Mittel erlaubten uns nicht, an der ziemlich lebhaften Geselligkeit teilzunehmen, die mir von seiten der Männer wohl manche Anregung geboten hätte. Die Frauen, zumal der Professoren, die ich gelegentlich kennengelernt hatte, zogen mich wenig an. Ein gewisser Zunfthochmut machte die meisten der letzteren unliebenswürdig, und daneben betraf ich auch sie darauf, daß sie mit Vorliebe von ihren Kindern und Mägden sprachen.

Ja wenn ich selbst ein Kind hätte –! Vielleicht wäre auf einen Schlag all meinem heimlichen Ungenügen abgeholfen. Da mir dies Glück bis jetzt versagt ist, was gäbe ich darum, mit irgend einer ernsten Thätigkeit mir das Gefühl zu erringen, daß ich nicht so gar tief unter meinem Manne stehe! Hätte ich auf einer Universität Botanik studieren dürfen oder Chemie, Physik, irgend eine der Naturwissenschaften – ich hätte doch von fern an seinem geistigen Leben teilnehmen können! Und am schönsten, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, auch meinerseits etwas zu erwerben, unsere beschränkte Lage dadurch zu erleichtern, etwa durch Unterricht in einer Mädchenschule, wenn mein Talent und Wissen auch nicht ausgereicht hätte, die Wissenschaft selbst zu bereichern!

Nun habe ich Dir genug vorgeklagt, liebste barmherzige Schwester.

Da ich meinem ohnehin so vielgeplagten Manne das Herz nicht noch schwerer machen mag durch solche unfruchtbaren und hoffnungslosen Bekenntnisse, sondern, wenn ich ihn haben darf, ihm ein heiteres Gesicht zeigen muß, mußt Du schon still halten. Dies aber soll das letzte Mal gewesen sein, daß ich Deine Güte mißbraucht, und der längste Brief, mit dem ich mich über den Kanal hinweg an Dein mir immer nahes, verstehendes Schwesterherz geflüchtet habe.

Lebewohl!

Deine M.     

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_783.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)