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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Sie sah ihn sehr ernsthaft mißbilligend an. „Daß Sie nun ebenso plötzlich sich für ihn begeistern! – Aber lassen wir ihn jetzt. Wir müssen ja endlich – – Was wird nun aus uns? – Ich hatte heute nacht, während Sie schliefen, viele Gedanken, Arthur. Gestern abend – als Sie mich beredeten – Vico und Neapel, mein’ ich – da war ich wie von Sinnen. Das ist nicht mehr so. Sie lächelte, aber sehr gezwungen. „Seit Sie wasserscheu und seekrank wurden –“

„Ja!“ lachte er auf. „Es war ein unglückseliges, tragisches Geschick! Tragikomisch, das fühl’ ich selbst. Aber damit wir doch wieder auf die Hauptsache kommen, meine süße Gertrud“ – Er kam aber jetzt nicht weiter: vom Speisesaal rückte der kleine Oberappellationsrat an, Arthur mußte sich mitten im Wort unterbrechen. Schilcher ging so hurtig, als wäre da vorn an der Brüstung etwas sehr Merkwürdiges oder Wichtiges zu sehn. Er hatte eine Serviette unter dem Arm, wie ein Kellner. Gertrud, so ernst sie gestimmt war, lachte, als sie ihn erblickte.

„Onkel Schilcher, Guten Morgen,“ sagte sie. „Was hast du da unter dem Arm?“

„Ja, ja,“ antwortete er, „in der Zerstreuung mitgenommen. Ich hatte meinen gewöhnlichen Morgengang vor dem Frühstück gemacht und sitze bei der Chokolade, da seh’ ich durch die offene Thür, den Garten entlang, daß Herr van Wyttenbach hier an der Brüstung –“

„Und dem mußtest du so eilig Guten Morgen sagen?“

„Ich dachte, da wird auch die kleine Gertrud sein …. Ja, und da sehnte ich mich wohl nach der kleinen Gertrud. Und so hab’ ich wie ein Liebender den Rest der Chokolade stehen lassen und bin hergelaufen!“

„Ach, wie rührend. Da ist mein wirklicher Vater kaltblütiger, sieh nur, wie ruhig der aus dem Oelbaumgarten kommt. Guten Morgen, Va –“ Jetzt erinnerte sie sich erst, wie es zwischen Vater und Tochter stand. Nie, nie, nie! – Sie hatte sich heute nacht so fest vorgenommen, nicht das erste Wort zu sprechen. An den Wangen rot angeflogen, sah sie vor sich nieder, schaute dann aufs Meer hinaus, wo der Frühmorgendampfer von Neapel mächtig rauchend heranschwamm, auf die kleine Marine zu.

Rutenberg schien nichts zu merken; er begrüßte Arthur und nickte nur zu dem Mädchen hin, als hätten sie sich heute schon gesehn. Bewundernd stellte er sich vor ein Kamelienbäumchen, das herrlich blühte. „Schilcher, was für Blumen!“ sagte er. „Mitten im Dezember!“

Schilcher trat zu ihm. „Ja, Alter, beinahe so schön wie ’ne Partie Whist!“

„Sind die beiden schon lange hier?“ flüsterte Rutenberg.

„Noch nicht lange,“ flüsterte Schilcher zurück.

„Waren sie allein?“

„Keine Minute. Als der dritte Mann, der Fritz Waldeck, fortging, da kam ich sogleich.“

„Du wirst sie nicht allein lassen, Alter?“

Schilcher hob seine Serviette ein wenig, er hielt sie jetzt in der Hand „Unter dieser Fahne werd’ ich weiterdienen!“

Rutenberg lachte still. Er wandte sich beruhigt zu Arthur, der vernachlässigt und unbehaglich dastand, denn Gertruds Augen gingen noch immer mit dem Dampfer. Na, und Sie, Herr van Wyttenbach? Sie sind ganz genesen?“

„Sie beschämen mich,“ warf Arthur mit einer Art von Lachen hin „es war ja nur eine Kleinigkeit. Eine – vielleicht etwas unmännliche Schwäche –“

Gertrud zuckte zusammen. Sie zeigte dann ihr blasses, unfrohes Gesicht.

„Was haben Sie, Fräulein Gertrud?“ fragte Arthur, indem er sie durch einen heimlichen gekränkten Blick einzuschüchtern suchte.

„Gar nichts,“ entgegnete sie. Statt auf Arthur schaute sie auf ihren Vater, der seiner Tochter nicht Guten Morgen sagte. Sie fühlte sich so unglücklich …

„Kommen Sie,“ sagte sie dann zu Arthur, um sich vor dem Vater nicht schwach und „würdelos“ zu zeigen. „Sie müssen da hinten die Mandarinen sehn, die nun rot und reif werden.“

„Jawohl,“ bemerkte Schilcher, der die Serviette kurz entschlossen in die Tasche steckte. „Trudel und ich, wir zeigen Ihnen die reifenden Mandarinen, denn Sie müssen ja doch mit Nutzen reifen!“

Unten auf der Felsentreppe begann eine männliche, tiefe Stimme zu singen. Goethes Verse in Beethovens Melodie:

„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Land die Goldorangen glühn?“

„Ah!“ sagte Rutenberg, der über die Brüstung blickte, „das ist Waldeck Sohn! – Er steigt herauf.“

Gertrud horchte andächtig; wie hübsch, wie rührend er singt, dachte sie. – Der Gesang ging weiter:

„Ein sanfter Wind von blauen Himmel weht, Die Myrte still –“

Hier verstummte Waldeck; vielleicht summte er noch leise weiter, ohne daß man’s hörte.

„Komisch!“ sagte Arthur. „Mitten drin hört er auf!“

Heute verletzte doch Gertrud alles. „Komisch!“ sprach sie ihm mißvergnügt nach. „Wenn man so in Gedanken singt! Er war wohl in Gedanken – Kommen Sie lieber! Zu den Mandarinen!“

„Wir kommen!“ sagte Schilcher, als gehöre er durchaus mit dazu. Die drei schwenkten ab, zu den Oelbäumen und den Mandarinen. Die Oliven waren im November gepflückt, die kleinen Goldfrüchte reiften noch ihrer Zeit entgegen. Gertrud liebäugelte täglich mit ihnen. Indem sie nun ging, warf sie noch einen traurigen Blick, einen ganz versteckten, auf den harten Vater, ob der ihr wenigstens nachsähe oder nicht. Ja, er sah ihr nach. Er schien aber zu lächeln, er sah heiter aus, statt traurig zu sein wie sie … Es ward ihr gar nicht gut, sie ging rascher weiter.

Rutenberg schaute ihr noch immer nach, als sie es längst nicht mehr wahrnahm. „Ah! ah!“ sprach er in seiner Freude vor sich hin. Mir scheint, das Ideal steht nicht mehr so hoch! Hat Schilchers Teufelei so gewirkt? oder was? – Wenn man da noch etwas weiter wirken, den Boden unter dem Ideal unterwühlen könnte …

Fritz Waldeck, „der andere“, kam heraufgestiegen. Rutenberg beobachtete ihn, während die schlanke, kraftvolle Gestalt sich so gut bewegte. Das Gesicht schien aber nicht freudig, eher vergrämt. Der junge Mann stand zuweilen still, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. „Herr Waldeck!“ rief er ihn an, als er oben stand. Fritz nahm den Hut ab und verneigte sich. Nun ging Rutenberg mit großen Schritten zu ihm. „Guten Morgen!“ sagte er herzlich und fast mit Vorwurf. „Sie geben mir nicht die Hand?“ Fritz gab sie rasch, mit einem großen Blick.

„Gestern abend hab’ ich Ihnen gesagt, wie ich für Sie fühle; denken Sie, über Nacht ändr’ ich meinen Sinn, wie ein junges Mädchen? – Ja, und fühlen Sie denn nicht, was mir auf der Seele liegt? Ich möcht’ was gut machen, Fritz Waldeck! Ihnen was Liebes thun, alles, was Sie sich wünschen können. Sagen Sie mir! Was kann ich thun?“

Fritz bemühte sich, so ruhig wie möglich zu antworten: „Ich glaube, Herr Rutenberg, nichts.“

„Nichts?“

Fritz schüttelte den Kopf.

Das wollen wir doch sehn! dachte Rutenberg. So leicht schüchtert man mich nicht ein! – Nun, davon später, sagte er dann, dem Sohn Ferdinand Waldecks in die guten Augen blickend.

„Für diesen Augenblick gestatten Sie mir eine Fragen – gar nichts Besonderes, nichts Indiskretes, nur über Ihren Schulfreund Herrn van Wyttenbach.“

Der auch? dachte Fritz betroffen.

„Schilcher sagt mir, Sie kennen ihn schon lange.“

„O ja!“

„Wollen Sie mir die Wahrheit über ihn sagen? Wollen Sie mir sagen, ob er – wie mach’ ich das – ob er nicht nur so ein Wasserhase, – ob er ein wirklicher Feigling ist?“

Fritz war eine Weile still. – „Ihnen kann ich sagen,“ erwiderte er dann langsam, „daß er – – nun, daß er sein Leben über alles lieb hat. Daß er jede Gefahr meilenweit vermeidet, wenn es möglich ist. – Ihn flog ein schwaches Lächeln an „Und wenn es nicht möglich ist –“

„Dann?“

„Nun – dann macht er es doch möglich.“

„Ah! – Ich danke Ihnen. – Dann macht er es doch – – Ich hab’ ihn also richtig taxiert!“ Donnerwetter! fuhr Rutenberg durch den Kopf, wenn ich diesem tapfern Jüngling eine Aufgabe stellen könnte, in der er vor Trudels Augen vergeht, wie ’ne Seifenblase! – Es fiel ihm aber nichts ein, er hatte nicht Schilchers Kopf … (Fortsetzung folgt.) 0


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