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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Rutenberg blickte auf; nun bemerkte auch er das Kind. Er schaute in die großen Augen die ernsten, in dem guten Gesicht. Wo kam das Kind auf einmal her? – Schon gut, soll nur hierbleiben! fuhr ihm durch den Kopf. „Sprechen Sie nur ruhig weiter, lieber Herr,“ sagte er zu Waldeck. „meine Tochter, da sie schon einmal da ist, ist hier nicht zu viel. Ganz im Gegenteil! Die hat mich nur zu oft von Ihrem unglücklichen Vater – Schlechtes reden hören, die soll mit dabei sein, wenn Sie mich belehren, beschämen. Denn ich seh’s ja Ihren Augen an: ich bin im Unrecht. Also der Arzt. Heraus damit!“

Waldeck zögerte, noch sehr verwirrt. „Vor Ihrer Tochter –“

„Ja, ja! Schonen Sie mich nicht! Verklagen Sie mich so hart wie Sie wollen – wenn ich es verdiene. Ich will doch vor meinem Kind nicht besser scheinen, als ich bin. Also was schreibt der? der Arzt?“

Der Jüngling nahm sich zusammen. Nach meines Vaters Tod – da drüben – in Amerika – schrieb sein Arzt ihn an meine Mutter. Sie haben übrigens den Brief schon in Ihrer Hand. Er berichtet darin über seinen Tod und daß er irrsinnig war, daß er sich im Irrsinn das Leben nahm. Und daß seine Geistesverwirrung sich offenbar lange vorbereitet – schon vor seiner Ankunft in Amerika sich entwickelt hatte … Aber bitte, lesen Sie selbst!“

Rutenberg lächelte, mehr und mehr gerührt. „Ich wollt’ es ja von Ihnen hören. Dann ist’s ja auch so gut wie gelesen … Aber wie Sie wollen!“ – Er sah in den Brief hinein: er durchflog ihn. „Irrsinnig – schon vorher! Mein Gott!“

„Aber das bewiese noch nichts“ – Fritz Waldeck entfaltete die letzten Papiere und hielt sie hin – „wenn ich das nicht hätte: die verlorenen Briefe, die Briefe jenes Schurken, des Direktors der Bank – die er vor dem Zusammensturz an meinen Vater schrieb. Worin er ihm beteuerte, beschwor, immer wieder und wieder – alles stehe gut. Wer daran zweifle, dem könne die heiligste Versicherung gegeben werden, daß ihm alles, alles – Lesen Sie; bitte. Diese Briefe täuschten meinen Vater! Als er sie später suchte, waren sie verloren; unter Papieren meiner armen, ahnungslosen Mutter vergraben – nur zu gut verwahrt. Nach unendlichem Suchen und Stöbern hab’ ich sie gefunden; ach, um viele Jahre zu spät. Aber doch gefunden!“

Rutenberg las, anfangs langsamer, dann flogen seine Augen nur. Endlich ließ er die Briefe auf den Tisch fallen, neben dem er stand. Es kam ihm ein Schluchzen, gegen das er kämpfte. „Und ich,“ brachte er mühsam heraus, „ich hab’ Ihren Vater, meinen Freund, verleumdet. Bis ins Grab –“

„O mein Herr –!“ sagte der Jüngling rasch, mit einer weichmütig abwehrenden Gebärde.

„Hab’ ich ihn denn nicht verleumdet? Stehn Sie denn nicht wie eine lebendige Anklage vor mir da – Sie, sein einziger Sohn? – Mann, und mit diesen Briefen reisen Sie Hunderte von Meilen hierher –“

„Es machte sich so,“ wiederholte Fritz Waldeck, „es fand sich eine gute Gelegenheit dazu. Eine Gesellschaft von jungen Archäologen, die nach Neapel und Rom reiste, mit einem Berliner Professor, unter dem hab’ ich studiert und er hat mich – rührend gern. Der schrieb mir denn auch: kommen Sie mit! Und ich – ich schlief nicht mehr, es ließ mir keine Ruhe, mein Vater stand so oft neben mir am Bett … Sie hatten ihn einen Verbrecher, einen Schurken genannt – Da hört’ ich vom Doktor Wild, wo Sie wohnen, und ich dachte: nimm’s an! So ’ne wissenschaftliche Reise – das ist ja an sich „studiert“. Und für deinen Vater, der – –“

Gertruds blasse Augen ruhten so fest, so weich auf ihm, daß sie ihn verwirrten. Er brach wieder ab. Nur eine unklare Gebärde mit dem Arm sprach noch etwas weiter.

„Ja freilich!“ murmelte Rutenberg. „Und von Neapel sind Sie –“

„Von Pompeji,“ fiel Waldeck ihm ins Wort. „Da wir gestern nach Pompeji kamen – so hielt ich’s nicht mehr aus. Bin heut nachmittag über Castellamare hergewandert –“

„Zu Fuß? Diesen ganzen Weg zu Fuß?“

Waldeck lächelte. „Um zu sparen. Ein so schöner Weg!“

Hinter ihm kam jetzt etwas geschritten, es war der kleine Schilcher, der die Thür zum Rauchzimmer längst behutsam geöffnet und jede Silbe gehört hatte. Er ging um Fritz Waldeck herum und sah ihm ins Gesicht. Er schien auch etwas sagen zu wollen, dann faßte er ihn aber nur stumm am Arm, glitt an dem herunter und drückte ihm die Hand.

In diesem Augenblick füllten sich Fritz Waldecks Augen mit Thränen; er suchte geschwind wieder zu lächeln, weil er sich wohl der Thränen schämte. „Herr! Herr!“ rief Rutenberg aus, der sich an den Tisch lehnte. „Geben Sie mir auch die Hand? – Oder hassen Sie mich? auch bis in den Tod?“

„Wie können Sie denken,“ stammelte der Jüngling, der nun fast nicht mehr reden konnte. „Wenn Sie mich so ansehn –“

„Fritz Waldeck! Ferdinand Waldecks Sohn!“

Rutenberg trat auf ihn zu und schüttelte seine ausgestreckte Hand. Er schluchzte nun doch einen Augenblick. – „Wie soll ich das gut machen, Mensch, was soll ich thun?“

Auf einmal umfaßte er ihn und drückte ihn an seine Brust.

„O mein Herr –!“

Rutenberg ließ ihn wieder los. „Hab’ ich mich übereilt? Durft’ ich das nicht?“

„O, Sie mißverstehn mich. Nein, nein. Ihr Edelmut – Ihre Güte …“ Fritz Waldeck legte sich die Hand auf’s Herz: „Alles, was sich hier angesammelt hatte, ist auf einmal fort. Und alles, alles ist gut!“

Schilcher blickte heimlich auf Gertrud, heimlich nickte er; das Mädel hatte auch eine tüchtige Menge Rührung im Gesicht, wenn er nicht sehr irrte. Richtig, nun geriet sie auch in Bewegung, trat vor den jungen Menschen hin. „Herr – Waldeck!“ sagte sie mit sehr wenig Stimme, aber großen Augen. „Verzeihn Sie mir auch?“

„Ihnen?“ fragte Fritz Waldeck erstaunt, überrascht. „Was hätt’ ich Ihnen –“

„Ich hab’ auch oft nicht gut von Ihrem Vater gesprochen. Nicht wahr, Sie verzeihn mir das; ich hab’s nicht besser gewußt. Und – und ich hab’ Sie verkannt;“ sie gab sich Mühe, zu lächeln; „hab’ Sie sogar verwechselt …“

Nun erheiterte sich sein Gesicht, es verlor das Schillersche. „Selbst das,“ sagte er, den leisen Druck ihrer Hand erwidernd, „kann ich jetzt vergessen!“

Wie hübsch der Junge lächeln kann, dachte Schilcher. Im nächsten Augenblick wandte er den Kopf und horchte zur Glasthür hin; ihm war, als hörte er da draußen rufen, und zwar eine bekannte Stimme. Es klang beinahe wie Hilferufe. Auch die andern horchten. Schilcher, in dem eine vergnügte Ahnung aufstieg, ging zur Glasthür und öffnete sie. Vom Meer herauf kam’s nun deutlicher, so daß man die Worte unterscheiden konnte, ein etwas entstellter, verwilderter Baryton rief: „Ans Land! Ich will ans Land!“

Gertrud fuhr zusammen. Sie schien die Stimme zu erkennen. Schilcher lächelte in sich hinein, ihm ward wohl zu Mut.

„Wenn ich mich nicht täusche,“ sagte er sehr ernsthaft zu den Männern zurück, „so war das Herr van Wyttenbach. Der war also noch nicht fort?“

„Herr van Wyttenbach?“ fragte Fritz Waldeck verwundert, betroffen. Gertrud wandte sich ab, als sähe sie da rechts etwas.

Die Rufe von unten her hörten auf; Schilcher trat auf den langen Balkon und schaute über das Geländer in die Nacht hinunter. „Ich hör’ da auf den Steinen Schritte,“ sprach er nach einer Weile in den Salon zurück. „Es war offenbar eine Barke. Sie sind gelandet, sind ausgestiegen. – Herr van Wyttenbach!“ rief er dann mit seinem holzharten Baß in die Tiefe, über das Geländer vorgebeugt. „Was ist Ihnen denn geschehn? – Wir sind noch hier! Kommen Sie herauf!“

Rutenberg lauschte, verstohlen lächelnd, er hatte seine Augen auf Gertrud, die noch immer die Wand anblickte. „Kommt er?“ fragte er nach einer tiefen Stille.

„Zu Befehl,“ rief Schilcher hinein. „Ich hör’ sie auf der Felsentreppe. Herrn van Wyttenbach und unsern Pasquale hör’ ich. Sie steigen herauf. Es scheint, das unruhige Wasser hat ihn eingeschüchtert.“

Fritz Waldeck trat in die Balkonthür, er verstand das alles nicht. „Wie meinen Sie das?“ fragte er. „Das Meer ist ja ruhig.“

„Dann war es vielleicht eine andre Sache,“ antwortete Schilcher in tiefem Ernst. „Jedenfalls kommt er herauf!“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_755.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)