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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

als sich an eine unbedeutende Schulfreundin zu erinnern; wer weiß, sie ist vielleicht noch weiter von mir verschlagen, bis über das große Wasser und eines Tages bringt die deutsche Zeitung in New York Bild und Biographie einer berühmten deutschen Aerztin, die wissenschaftliche Abhandlungen schreibt und in ihren Sprechstunden täglich von hundert Hilfe suchenden Frauen und Kindern überlaufen wird. Konnte ich denn denken, daß ein Brief verloren gegangen war, jener Brief, in dem Du mir, wie Du sagst, die Geschichte Deiner Studienjahre in der Glasgower School of Medicine for Women erzählt und Deine Promovierung zur Doktorin verkündet hattest? Und wie nun gestern der eingeschriebene Brief aus Glasgow kam, die Adresse in einer mir fremden echt englischen Handschrift, und ich, während ich den Empfang bestätigte, mir den Kopf zerbrach, wer mir aus Glasgow schreiben könnte – zu meiner Schande gesteh’ ich’s, nicht von fern kam mir die Vermutung, er könne von meiner alten Mary sein, von ihr, an die zu denken ich nie aufgehört hatte, deren Photographie über meinem Schreibtisch, auch wenn ich hätte untreu werden wollen, mich vor dieser Todsünde bewahrt haben würde.

Aber wie ich nun das Couvert aufgriffen hatte und unter den acht engen Seiten den geliebten Namen las und in dem photographischen Kärtchen das liebe alte Gesicht wiederfand, jetzt freilich noch etwas ernster und „sibyllinischer“ – Du entsinnst Dich wohl unserer alten Neckerei – aber immer noch meine Mary und jedes ihrer Worte so schwesterlich vertraut, – o meine alte Unvergeßliche, es überströmte mich eine so heiße Freudenflut, daß sie im Herzen nicht Raum fand und aus den Augen wieder herausstürzen mußte! Du weißt, ich habe Lori Schumacher nicht ausstehen können. Ich verachtete sie, daß sie in der Litteraturstunde, wenn wir die „Jungfrau von Orleans“ lasen, unterm Tisch ein Buch von Paul de Kock verschlingen und dazu Pralinés naschen konnte. Aber nun will ich ihr alles abbitten, weil sie es war, durch die Du mündliche Nachrichten über mich erhieltst und erfuhrst, daß ich weder untreu, weder tot sei, sondern acht lange Jahre nicht ein Wort von Dir erfahren hatte.

Die Freude hat mich so taumelig gemacht, Du kannst heute keinen vernünftigen Brief von mir erwarten, keinen, der, wie der Deine, Dir ein Bild meines Lebens gäbe. Auch wenn ich dazu imstande wäre, wär’s immerhin kein so erfreuliches, wie mich’s aus Deinem Brief anblickt. O Mary, ich habe so eins vor Dir voraus: den Besitz eines geliebten Mannes, den ich täglich mehr achten und verehren lerne, während Du, Aermste, den Deinen nach so kurzem Glück hast hingeben müssen. Aber Dir sind ja Deine Kinder geblieben, drei so liebe Bübchen – Du mußt mir ihre Bilder schicken, hörst Du? – und Dein Beruf, der Dich mit so reiner Genugthuung erfüllt und Dir die Gewißheit giebt, nicht nur der Menschheit, insbesondere ihrem weiblichen Teil, eine Helferin und Wohlthäterin zu sein, sondern auch Deine Knaben frei von drückenden Sorgen anziehen zu können, umgeben von der Achtung aller, die Dich kennen für Dein rechtschaffenes Tagewerk, belohnt durch die Dankbarkeit derer, denen Du in leiblichen Nöten Hilfe gebracht hast, während ich – – –

Aber nein, dieser erste Brief soll keinen bitteren Ausklang haben. Wir sind wieder beisammen und können uns nie mehr verlieren. Da wirst Du es freilich ertragen müssen, daß ich wie in unsrer jungen Zeit Dir nur allzu schrankenlos mein Herz ausschütte, als Dein altes, trostbedürftiges „Beichtkind“, wie Du mich damals nanntest. Nur fürchte nicht daß ich den Trost, den Du mir gewährst, nach der Länge Deiner Briefe messen werde. Ich werde nie vergessen, daß Du eine Sprechstunde hast und ich nur – Plauderstunden, so viel ich haben will. Nur von Zeit zu Zeit einen Gruß von Dir zu erhalten, ein liebevolles Wort, das mir sagt, ich falle Dir nicht lästig mit meinen Herzensergießungen – zumal ich keinen Rat und keine Hilfe von Dir erwarte – das wird mir sein, wie wenn Du neben mir säßest und mir wie auf der Bank im Schulhof, wenn ich Dir mein Leid geklagt hatte, mit der warmen Hand übers Haar strichest und mit Deiner klaren, ruhigen Stimme zurauntest: Kopf oben, kleine Dulderin! Wir suchen uns unser Leben nicht aus, aber we must try to make the best of it[1].

Du warst schon damals die Erste im Englischen, auch in englischem self-government. Ich bewunderte Dich auch weniger um Deine anderen Gaben als um Deine Tapferkeit. Freilich, auch der Tapferste macht nur ein Loch in seinen eigenen Kopf, wenn er damit durch die Wand rennen will.

Es ist zu dumm, ich komme doch wieder in den elegischen Ton! Also nichts mehr für heute als nur einen Jubelruf und Herzensdank für das beseligende „Wunder“, und jetzt in alle Ewigkeit Dein treues Beichtkind

Martha.     


Zweiter Brief.
W. ..... 25. September.     

Das hätt’ ich denken können, liebste Mary, vielmehr, ich hab’ es gedacht, gleich nachdem mein Brief fort war, daß Du wegen der Stoßseufzer, die ich törichterweise nicht unterdrückte, als ich mein Leben mit dem Deinen verglich, Dir allerlei Sorgen machen, vor allem den Verdacht schöpfen würdest, ich sei nicht so glücklich in meiner Ehe, wie ich nach dem Zeugnis, das ich meinem Manne ausgestellt, von Gottes und Rechts wegen sein müßte. Ich war drauf und dran, dem Brief gleich am andern Tage ein langes Postscript nachzuschicken, mit einer ausführlichen Liebeserklärung für meinen Hellmuth, dessen Bild ich beilegen wollte. Dann unterließ ich es, denn ich sagte mir: wenn ich sie gleich zu Anfang unseres Wiederhabens dermaßen mit Briefen bestürme, wird sie erschrecken und am Ende wünschen, die auferstandene Jugendfreundschaft, die sich so geschwätzig gebärdet, legte sich wieder – wenn auch nicht ins Grab, doch zu einem friedlichen Schlummer hin, statt ihr ihre kostbare Zeit zu stehlen.

Nun aber fragst Du mich geradezu, was ich denn hätte, das mich in der glücklichsten Ehe nicht zur Ruhe kommen lasse. Da muß ich wohl antworten. Und wenn ich ein wenig weit aushole, ist’s nicht meine Schuld, sondern die der acht Jahre unserer Trennung, deren Geschichte nicht merkwürdiger ist als der Lebenslauf von Tausenden unseres Geschlechts in dieser entscheidenden Periode der reifen Mädchenjahre, deren Erfahrungen Dir aber gottlob fern geblieben, da Du zu den Ausnahmsnaturen gehörst und früh in ein Land geflüchtet bist, wo freiere und gesündere Lüfte wehen.

Du hast meine guten Eltern gekannt, soviel man Menschen kennen lernt, deren gastliches Haus man zuweilen besucht und die einem ein freundliches Gesicht machen, weil man mit ihrer Tochter innige Freundschaft hält. Daß ihnen diese Freundschaft zuweilen Sorge machte, hast Du wohl nie gemerkt, und ich hütete mich wohl, Dir’s zu verraten. Sie hielten Dich für ein gefährliches Wesen, weil Du immer, mit aller Bescheidenheit, offen heraussagtest wie Du fühltest und dachtest, selbst wenn es gegen die hergebrachten Anschauungen und Vorurteile der guten alten Zeit verstieß. Sie fürchteten, Du möchtest auf ihr Kind einen unheilvollen Einfluß ausüben, mich zu ähnlichen „extravaganten“ Grundsätzen verführen, die ihnen ein Greuel waren. Aber sie liebten mich zu sehr, um mir den Umgang mit Dir zu untersagen, und atmeten nun auf, als Du, bald nachdem wir die höhere Töchterschule verlassen hatten, Deinen alten Vorsatz, in England Medizin zu studieren, ausführtest und mit der kleinen Erbschaft von der guten alten Tante Bettine auf und davon gingst.

Auch waren sie liebevoll genug, meine Trauer um Dich zu schonen und Dich mir nicht als warnendes Exempel vorzuhalten, wohin die „Emancipationssucht“ der modernen Jugend führe. Bleibe im Lande und verheirate Dich redlich! Zumal wenn Du durch ein kleines Heiratsgut gegründete Aussicht dazu hast. Daß der Mensch, auch der weibliche, nicht vom Brot allein lebt, und wäre es selbst, wie man’s früher gewohnt war, im eigenen Ofen gebacken kam diesen lieben trefflichen Seelen nie zum Bewußtsein.

Die Tochter gehört ins Haus ihrer Eltern, bis sie in das ihres Mannes eintritt! war die oft ausgesprochen felsenfeste Ueberzeugung meines lieben Papas. Er war ein ausgezeichneter Jurist, aber von der alten Schule, die sich um die seit hundert Jahren so vielfach veränderten Lebensverhältnisse und die neuen Rechtsfragen, die sich daraus ergaben, nicht ernstlich bekümmerte. Auch war er durch sein Amt zu sehr in Anspruch genommen, um sich mit Problemen dieser einzulassen, die ein umfassendes Studium erforderten.

Wie vielen hochgebildeten Männern bin ich seitdem begegnet, die über brennende Lebensfragen unserer heutigen Gesellschaft mit der oberflächlichen Kühnheit absprechen, ohne sich je die Mühe zu geben, ihnen ein ernsteres Nachdenken zu widmen! Die Rechtschaffensten darunter sind diejenigen, die ein so gehäuftes Maß täglicher Arbeit zu bewältigen haben, daß sie an das, was

  1. wir müssen versuchen, von ihm den bestmöglichen Gebrauch zu machen. D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_750.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2017)