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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Weiter erzählen,“ bat sie ängstlich. „Mich nach nichts fragen, ja? Bitte!“

Er seufzte. „Na gut. Der Sopran also. Da drin haben wir seit einiger Zeit – Sie werden staunen – Grete und Meta Rettenbacher. Und auf ihren fragenden, gespannten Blick: „Grete Zöllner wollt’ ich sagen, Rettenbachers Schwester, die älteste nach ihm, wissen Sie. Der ist vor bald zwei Jahren der Mann gestorben, und nun führt sie dem Bruder die Wirtschaft. Den Hans hatte er schon vorher ganz zu sich genommen, den Eltern von der Tasche herunter. Er geht umsonst bei uns in die Schule. Eine Freistelle, verstehen Sie. Die Meta hat Putzmachen und solche Sachen gelernt, wohnt auch bei ihm. Eine ganze Kolonie Rettenbachers.“

„Also hat seine Lage sich jetzt gebessert?“ Hannas Stimme hatte die krankhafte Rauheit verloren, die stärkste Erregung schien überwunden. Sie hatte auch ihr Gesicht wieder in der Gewalt.

„Sehr gebessert,“ bestätigte Günther freudig. „Es geht aufwärts mit ihm. Seit bald drei Jahren Oberlehrer, höheres Gehalt! Dazu die vielen Privatstunden. Das heißt, die wird er sich nach und nach nun doch wohl abwimmeln müssen. Seine schriftstellerische Thätigkeit ist doch wichtiger, bringt auch mehr ein. Von seinem Buch wissen Sie nichts? Müssen Sie lesen! ,Gesundheitspflege in der Schule’. Eine feine Nummer, sag’ ich Ihnen! Hat Aufsehen gemacht, man wird aufmerksam auf ihn. Die Zeitungen strecken schon die Fühlhörner nach ihm aus. Einfach diebisch freu’ ich mich. Der beißt sich durch, sollen Sie mal sehen. In ein paar Jahren ist der ein gemachter Mann. Wer hätte das früher gedacht! Famos, was? Zum Radschlagen.“

„Ja, sagte Hanna weich, „mit einem Schimmer ihres Mädchenlächelns setzte sie hinzu: „Radschlagen thu’ ich nun zwar nicht gerade – aber ich freu’ mich sehr, sehr. Wollen Sie ihm sagen, daß ich mich sehr freue?“

„Will ich, Hannichen. Gerne. Soll er Ihnen sein Buch schicken?“

„Nein,“ wehrte sie ängstlich. „Nicht schicken. Ich kaufe es mir. Da –“ sie zog ein elegantes, kleines Büchelchen hervor – „schreiben Sie mir Titel und Verlag genau hier hinein.“

„Sie wollen nur ein Autogramm von mir haben, wie ich merke,“ sagte Günther lächelnd. „Aufschreiben? bei Ihrem Gedächtnis?“

„Nur zu, schreiben Sie,“ entgegnete Hanna müde, ohne ihn anzusehen. „Es ist mit meinem Gedächtnis nicht so weit her.“

Er that nun, wie ihm anbefohlen war, und gab mit einem erneuten Sorgenblick in ihr armes, verhärmtes Gesicht das Buch zurück. Sie schien seine forschenden Augen unangenehm zu empfinden, denn sie drehte den Kopf zur Seite.

„Sagten Sie nicht,“ begann sie hastig aufs neue zu fragen; „von seinen – von Rettenbachers Geschwistern? Grete. Also Witwe? Hat sie den Mann gern gehabt? Grämt sie sich?“

„Gott – ich glaube, eine Leidenschaft war’s gerade nicht. Er war gut zu ihr, ja. Sie hat ihn ehrlich und ordnungsmäßig ein Jahr lang betrauert und nun – nun, das Leben ist noch lang, sie ist kaum dreißig, vielleicht noch nicht einmal, und sie ist ein frisches, gesundes Weibchen. Würden Sie’s ihr verdenken wenn sie ihrem Jungen gelegentlich einen neuen Vater gäbe?“

„Nein. Gewiß nicht. Warum?“ Hanna sah starr geradeaus. „Das muß jeder mit sich selbst abmachen, das geht niemand etwas an, auch darf niemand darüber urteilen. Der eine kann’s, der andere nicht. Der eine hat noch den Mut, der andere nicht.“

„Na ja. Noch ist es ja auch nicht so weit. Ich meinte nur.“

„Erhält denn nun Rettenbacher sie ganz, die Grete samt ihrem Kind?“

„I wo, das kann er nicht, kein Gedanke. Er hat ja den Hans schon gänzlich übernommen. Nein, sie hat ja doch ihr kleines Erbe aus dem Nachlaß ihres Seligen. Das thäte sie nicht, das wäre auch gar nicht Rettenbacherisch! Sie bezahlt die halbe Miete, und für Bekleidung und dergleichen für sie und das Kind darf er keinen Heller ausgeben. Sie führt ihm den Haushalt sehr sparsam und vernünftig. Es sieht nett bei ihnen aus.“

Hanna setzte zum Sprechen an. „Wo wohnt er?“ wollte sie fragen, aber sie ließ es sein. Lieber gar nicht wissen.

„Er wohnt natürlich nicht mehr in seiner alten Klause“, berichtete Günther von selbst weiter. „Als die Grete kam, zog er nach Friedenau, dort sind die Wohnungen beträchtlich billiger. Ein behagliches Residenzchen haben sie sich gebaut. Klein, aber fein. Zwei Schlafstuben, eine Wohnstube. Das heißt, er – na, seine Bude sollten Sie eigentlich kennen!“

„Hat er noch seine Einrichtung – von damals?“

„Selbstverständlich. Meinte ich eben. Bis auf den Nagel an der Wand. Und in der Wohnstube die Hängelampe über dem Tisch, das wäre auch eine alte Bekannte ich glaube, noch mit dem ersten Cylinder. Sonst ist es Gretens Hausrat.“

„Nun und Meta? Das ist aber doch die dritte?“

„Stimmt. Lieschen hat sich diesen Sommer verlobt. Ich glaube, die war mit ihrem kleinen Pfarrer schon so ein Stücker fünf, sechs Jahre einig. Na, nun sind sie ja soweit. Meta, das ist ein fixes Mädel, trotz ihrer Jugend. Neunzehn, zwanzig, so was. Wird nicht lange dauern, so verdient sie sich ganz alleine ihr Brot. Ihre Prinzipalin vertraut ihr schon ganz verschmitzte Sachen an. Neulich abends kam sie mit so einem netten kleinen Ding mit Hut nach Hause, das sollte sie noch vor dem Schlafengehen fertig machen, weil’s Eile hatte. Ich sage Ihnen, es sah nach was aus. Ich verstehe zwar nichts davon, aber die Grete meinte, es könnte sich entschieden sehen lassen. Das kriegt sie schon extra bezahlt. Den Stolz hätten Sie sehen sollen. Weil sie durchaus darauf besteht, hat ihr der Bruder erlaubt, daß sie ihm die Woche zwei Mark und fünfzig Pfennig Pension zahlt. Mittag ißt sie nämlich in der Stadt. Eine tolle Wirtschaft, sag’ ich Ihnen. Ich könnt’ mich manchmal krank lachen. Wie die Kampfhähne gehen sie zuweilen aufeinander los. Und warum? Bloß weil einer immer noch stolzer ist als der andre und sich ‚nichts schenken lassen will‘. Der Hans phantasiert auch schon herum, er würde den Sextanern Nachhilfestunde geben, wenn er erst in Sekunda wäre, und zählt schon jetzt alles auf, was er sich von seinem ‚Verdienst‘ kaufen kann und wie er den Bruder ‚entlasten‘ will. Aber verstehen Sie wohl – Sie müssen sich das alles nun nicht etwa duckmäuserisch vorstellen und knickerig und ‚ungefreut‘ – so sagt unser neuer Bassist, ein Schweizer –“

„Nein, nein,“ sagte Hanna leise und rasch, „‚ungefreut‘ stell’ ich mir das nicht vor. Vielmehr sehr schön, sehr beglückend. Und wie geht’s den Alten daheim?“

„O, ganz nett. Aus den eigentlichen Sorgen sind sie ja nun raus. Die Schule ist vergrößert worden, also sind auch die Einnahmen gewachsen. So elend zu schuften braucht die arme Frau nicht mehr. Grete, Hans und Liese versorgt, Meta kaum noch zu spüren. Ernst als Forstgehilfe aus dem Haus und von der Tasche herunter. Der Graf läßt ihn lernen und wird ihm auch Empfehlungen geben, wenn er fertig ist. Bleiben also eigentlich nur noch drei. Doch tausendmal besser als in früheren Zeiten, was? Und daß es wieder schlechter werden könnte, brauchen wir nun wohl nicht mehr zu befürchten.“

„Ich bin sehr, sehr froh über das alles,“ sagte Hanna mit einem tiefen Aufatmen. „Ich hatte es mir nicht so vorgestellt. Nun, und Sie, altes Güntherchen? Im Aussehen haben Sie sich gar nicht verändert. Bis auf die paar weißen Haare da im Bart.“

„Hab’ ich schon wieder welche?“ fragte Günther komisch empört. „Erst vor vierzehn Tagen hat mir die Grete zwei ausgezupft. Sie findet, es stört den Gesamteindruck, ich sähe noch nicht danach aus, als ob ich schon weiße Haare kriegen könnte.

„So? Findet die Grete?“ In ihrem weichen, leis schelmischen Lächeln, dem ein Hauch von Wehmut den Glanz wegnahm, war etwas, das ihn ergriff.

„Gutes Hannichen,“ sagte er bittend, „ich hab’ Ihnen nun so ausführlich den ganzen Roman vorgebetet. Sie wissen nun alles. Lassen Sie uns jetzt endlich auch von Ihnen reden. Wie leben Sie?“

„O angenehm, sorgenlos,“ antwortete sie kalt, gleichgültig und schwieg wieder. Aus ihrer Stimme, aus ihrem Gesicht war alle Weichheit weg. Der zarte Farbenschimmer, der während des aufmerksamen Zuhörens allmählich ihre blassen Wangen belebt hatte, erlosch; um ihre Lippen, zog sich wieder der schmerzhaft bittre Zug, der ihm beim erstes Anblick schon so peinlich aufgefallen war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_743.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)