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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Erster Unterricht.
Nach einem Gemälde von Paul Thomas.

sehr im Irrtum, meine arme Gertrud. Es war also nicht aus. Im Gegenteil, der zweite Band des Romans beginnt: die Geheimnisse. Die liebende und trotzende Tochter hat Geheimnisse vor dem harten Vater –

„Vater!“ rief das Mädchen.

„Heimliche Briefe, ich weiß. Weiß alles. – Das ist immer so. Ist ja auch ganz natürlich! Der Vater ist grausam, unverständig, er will nicht begreifen, daß die Tochter recht hat, er entführt sie tyrannisch in ein wunderschönes Land, wo die Orangen und die Palmen wachsen, – wo ihr alles zuruft: ‚Kind, das Leben ist schön, und die Welt ist groß, häng‘dich nicht an den einen Wunsch und den einen Menschen! Mach dein Herz und die Augen auf, laß die Welt hinein, eines Tages wird dann die Stunde kommen, wo du ganz verwundert hinschaust: dieser eine kleine Mensch war mir einst die Welt? – O – nein, das Kind weiß es besser. Es drückt das trotzige junge Herz so klein zusammen, daß nur der eine kleine Mensch darin Platz hat. Und es schreibt heimliche kleine Briefe – ‘

„Vater!“ rief das gequälte Mädchen wieder. „Sag nur ruhig ,Vater’ auf den Namen hör ich. Darum nehm’ ich es auch nicht so schwer mit den Heimlichkeiten, wie es andre thäten. Das Kind ist krank, sag’ ich mir. Laß ihm Zeit. Laß ihm sein Fieber. Laß es nur genesen! – – Da haben wir ihn also wieder, deinen Arthur. Siehst du ihn denn wirklich noch mit denselben Augen? noch als Ideal? Wenn du ihn sprechen hörst – und was er spricht – ist er dir noch immer der Inbegriff alles Herrlichen, über alle Menschen? Und sagst du dir immer noch: wie auch die andern, die mich lieben, über ihn denken, ich will mit ihm leben und sterben?“

Gertruds schlanker Körper wand sich, der Vater stand noch immer hinter ihrem Rücken.

„Ach,“ seufzte sie, „wie quälst du mich. – Bitte, laß mich gehn!“ – Sie drehte sich nach der Thür, die zu ihrem Zimmer führte.

„Bitte sehr,“ entgegnete er jetzt mit ganz andrer Stimme. „Wie Sie wünschen, Fräulein Rutenberg.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_733.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)