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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nr. 44.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(14. Fortsetzung)

29.

In dem langen, oberen Korridor des Gymnasiums ging Heinrich Günther wartend auf und ab. Der Unterricht mußte nun gleich zu Ende sein. Rettenbacher hatte ihm in der großen Pause sagen lassen, er möchte ihn um Zwölf an seiner Klasse abholen. Die Zeit von Elf an hatte er sich im Konferenzzimmer mit Lesen vertrieben. Er versäumte ja nichts, wenn er auch eine Stunde später heimkam. Rettenbacher bat so selten um etwas, daß er ihm den kleinen Gefallen nicht hatte versagen wollen. Offenbar wollte er ihm etwas Besonderes mitteilen.

Noch war alles ruhig in dem großen Gebäude. Aus den Klassenzimmern nur hörte man zuweilen die Stimmen der Lehrer, die Antworten der Schüler. Zu den auf den Hof gehenden Fenstern schien die heiße, grelle Julimittagssonne herein und warf, abwechselnd mit den dunklen Schatten der Pfeiler, blendende Streifen auf den Cementboden und an den Wänden gegenüber hin auf Wolken von Sonnenstäubchen tanzten in der glühenden Helligkeit gelangweilte Fliegen surrten ab und zu, bolzten gegen die Fensterscheiben. – –

Günther begann zu gähnen und sah zum vierten mal nach der Uhr. Sie ging wohl vor?

Nein. Jetzt schmetterte drunten die große Schulglocke los, und nur wenige Augenblicke später sprangen die Klassenthüren auf, wie Klappen an einem Behälter, die dem Druck einer inwendig gegenstauenden Masse berstend nachgeben müssen, und entließen den dichten Schwarm der durcheinander lärmenden, schwatzenden, lachenden befreiten Schüler.

Der Strom ergoß sich die Treppe hinunter, empfing vom obersten Stock her den gemäßigter niederflutenden Nachschub aus Prima und Sekunda, vereinigte sich weiter unten mit dem quirlenden Wellengewimmel der Kleinen und schäumte in breitem Katarakt zum Thore hinaus.

Günther war zur Seite getreten, um den Strudel vorbeizulassen. Ganz am Ende des Korridors, aus der letzten Thür heraus, trat jetzt Rettenbacher an der Seite des Direktors, der offenbar beim Unterricht hospitiert hatte. Langsam, tief im Gespräch, kamen die beiden Männer den Gang herauf. Aus dem Sonnenstreifen, der Arnolds Blondhaar leicht vergoldete, tauchten sie in den Schatten und wieder heraus ins Licht.

Die kräftige, breitschulterige Gestalt des Schulmonarchen mit dem machtvollen, von schwarzer Mähne umwallten Kopf erschien, obwohl sie den schlanken Wuchs des jüngeren Mannes an Höhe nicht erreichte, doch bedeutender und größer als sein Begleiter. Rettenbacher schritt mit der leichtgeneigten Kopfhaltung des ehrerbietig aufmerksamen Zuhörers neben seinem Vorgesetzten her.

Sie hatten jetzt Günther und das Ende des Ganges erreicht und blieben stehen.

„Also, wie gesagt,“ fuhr der Direktor nach kurzer Begrüßung des Wartenden wieder zu Rettenbacher gewandt fort, „Sie haben meine volle Zustimmung. Machen Sie den Plan nur recht schön.

Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Nach einer Radierung von L. Michalek.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_725.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2017)