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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Schwerenöter kam schon die Treppe herauf, schwarz oder dunkelbraun gekleidet, einen hellen Ueberzieher auf dem Arm, einen von diesen verhaßten Cylindern auf dem Kopf. Mit seinem scharmantesten Lächeln zog er den Hut herunter, Schilcher zu begrüßen. „Welche angenehme Ueberraschung, Herr Oberappellationsrat –“

„Ja, sehr angenehm,“ fiel ihm Schilcher ins Wort. „Sie entschuldigen!“

So ging der kleine Herr an ihm vorbei und die Treppe hinab.

Arthur van Wyttenbach verzog das Gesicht, er stand eine Weile still. Drollige Begrüßung, dachte er. Unendlich warme Begrüßung … Aus seinem sauren Lächeln ward allmählich ein freieres. „Pah!“ blies er zwischen den Lippen hervor. Offene Arme hatte er ja nicht erwartet. Bei dem Mädel, ja, bei den beiden landflüchtigen Jubelgreisen nicht. Jetzt nur ruhig Blut, dachte er, den Hut in der Hand behaltend, und nur immer munter! Mit den Jubelgreisen werden wir wohl fertig!

In dem Zimmer geradeaus hörte er jetzt Stimmen, sie kamen ihm sehr bekannt vor, mit raschem Entschluß trat er ein. Es war der Salon, am Lesetisch und am Klavier sogleich zu erkennen, Gertrud, die jetzt blasser, und ihr auch nicht sehr gesund gefärbter Vater standen am großen Tisch. Arthur machte seine schönste Verbeugung.

„Wir sind sehr erstaunt,“ sagte Rutenberg, der nur durch eine unentschiedene Bewegung grüßte, „sehr überrascht, Herr van Wyttenbach. Wir alle –!“

Er warf dabei einen flüchtigen Blick auf Gertrud, die zu lächeln suchte, als fühle sie sich auch überrascht.

„Natürlich,“ erwiderte Arthur, „da Sie alle nicht wußten und nicht wissen konnten, daß auch meine unbedeutende Persönlichkeit sich erlauben würde, einen kleinen ,Ritt in das romantische Land’ zu unternehmen –“

„Und Sie vermuteten wohl auch nicht, uns hier in Sorrent zu finden!“

„Ich? Keine Ahnung! Wie ich plötzlich Ihre Stimme hörte – und Fräulein Gertrud am Fenster sah – in der dämmernden Nacht grad’ noch zu erkennen – da war ich doch wie im Traum! Ich schlenderte so durch die Straßen hin, war eben von Vico hergewandert, denn ich wohne nicht hier, sondern in Vico – .“

„Vico?“ fragte Rutenberg. „Was ist das?“

„Kennen Sie Vico noch nicht? Vico Equense, einer der angenehmsten Aufenthalte am ganzen Golf, wie man mir gesagt hat, ein Felsennest oben über dem Meer, anderthalb Stunden von hier. An der Straße, die von Castellamare nach Sorrent führt –“

„Richtig! Man fährt ja durch! – Also da wohnen Sie?“ Arthur, immer unbefangener, nickte: „Ja, seit heute früh. Es war nämlich längst mein Wunsch –“ er lächelte, mit leichter Selbstverspottung – „wie Mignon, das arme Kind, das immer von dem Land ihrer Sehnsucht träumte, so ungefähr träumte auch ich, seit meiner Knabenzeit … Gestatten Sie mir dieses romantische Gefühl! – Ich hatte übrigens auch eine Tante in Neapel zu besuchen, eine sehr liebe, vortreffliche Frau, und in Neapel wurde mir Vico sehr empfohlen, ich muß sagen, mit Recht. Ein sehr komfortables Hotel, alle Achtung, eine prachtvolle Straße führt ans Meer hinunter. Und ebenso, wie von hier, hat man auch von Vico den Blick auf das große Flammenthor der Unterwelt, auf den ewig erhabenen Vesuv! – Ich hab’ da schon sehr geschwelgt, natürlich … Im Hotel sagte man mir dann, es giebt hier keinen lohnenderen Spaziergang als den nach Sorrent. Ich mache mich also auf und schlendre nach Sorrent!“

„So spät?“ fragte Rutenberg, diplomatisch lächelnd. „Im Dunkeln?“

Arthur lächelte ebenso. „Na ja, die Nacht überraschte mich,… aber was thut mir das. Ich kann ja zu Wasser und zu Lande nach Vico zurück, im Boot oder im Wagen. Ich hatte nun einmal die jugendliche Ungeduld, auch Sorrent zu sehn, die Orangenstadt, wenn auch jetzt nur bei Nacht. Und da führt mich mein guter Stern – ich irrte ganz zwecklos herum – an diesem Hotel vorbei. Ich höre meinen Namen rufen – und hier in der Fremde bin ich auf einmal wie in meiner Heimat!“

Rutenberg blickte verstohlen auf Gertrud, ihre nicht mehr blassen Wangen färbten sich etwas stärker, sie lächelte ein wenig. Sie stand aber so unschuldig da … Sollte das Kind wirklich nichts gewußt haben? dachte er und atmete schon auf. Er lud den jungen Mann ein, sich zu setzen, noch hatte er's nicht gethan. Wyttenbach nahm mit einer leichten, eleganten Verneigung Platz, auch Gertrud sank nun langsam auf einen Stuhl. Sie hatte noch kein Wort gesprochen. Eben wollte sie anfangen, zu reden, als vom Korridor her der Mann in die Thür trat, den Rutenberg schon lange mit den Augen suchte. Schilcher, den Rock noch zugeknöpft, den Hut in der Hand, schob sich so ruhig herein, als wäre nichts vorgefallen. Er machte die Thür langsam wieder zu und blieb bei ihr stehn.

„Wo warst du?“ fragte Rutenberg, der in plötzlicher Unruhe aufstand.

„Hatte was zu besorgen,“ entgegnete Schilcher. Er lächelte dann, da Rutenberg auf Arthur blickte: „Jawohl, jawohl, wir haben uns schon begrüßt. – So kommt man allerwege wieder zusammen, die Welt ist klein, wie schon Dickens sagte. Ja, die kleine Welt!

Er hob einen seiner kurzen Arme ein bißchen, ließ ihn dann wieder sinken. Rutenberg kannte seinen Mann: aus dieser kleinen Bewegung entnahm er, daß der andre etwas auf dem Herzen hatte. „Nun, so mach’ unserm Gast die Honneurs!“ sagte er zu Gertrud, „sprich doch endlich auch ein Wort!“ Als ihre Lippen dann aufgingen und ihre weiche, jetzt unsichere und befangene Stimme zu zwitschern anfing, trat er zu Schilcher und pflanzte sich breit vor ihn hin. Was giebt's? fragte sein stummes Gesicht.

„Bin nur die fünf Schritte bis zur Post gegangen,“ sagte Schilcher leise. „Die war geschlossen. Aber nebenan im Circolo, im Klub, fand ich den Postdirektor, den gemütlichen alten Burschen. Heut’ nachmittag war deine Tochter auf der Post –“

Rutenberg packte Schilcher am Rock. „Ruhig,“ raunte Schilcher. An dem großen Gegenüber vorbei, das ihn verdeckte, streckte er seinen Kopf hervor und lächelte Gertrud an, die etwas übertrieben feierlich mit ihrem Adonis sprach. „Unsre Gertrud,“ sagte er laut, sollte wohl Herrn van Wyttenbach eine Erfrischung anbieten, wie?“

„Ja, ja,“ antwortete das Mädchen rasch. „Sie werden hungrig sein, Herr van Wyttenbach.“ Arthur lächelte: „So ein wenig, ja!“

„Sie war auf der Post,“ flüsterte Schilcher wieder, „und holte einen Brief ab, einen Poste-Restante-Brief. – „Also Korrespondenz hinter meinem Rücken!“ flüsterte der empörte Rutenberg.

„Jawohl, aber ruhig, Alter.“ – Schilcher zeigte den jungen Leuten wieder sein Gesicht: „Na, also etwas essen, wenn man hungrig ist!“

Arthur ergriff diesen Gedanken mit Eifer. „Sie haben recht,“ erwiderte er, „sehr recht! Ich ging nämlich thörichterweise vor dem Diner von Vico fort, – ich wohne nämlich in Vico. Eh ich nach Hause fahre, sollt’ ich unten im Speisesaal noch ein wenig essen.“

„Ja freilich! sagte Rutenberg, der sich mächtig zusammennahm. „Thun Sie das, thun Sie das, Herr van Wyttenbach. Ehe Sie dann abfahren, sehn wir Sie noch, natürlich, hier im Salon!“

Arthur verneigte sich ehrerbietig. „Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Rutenberg. Sein braunes Schnurrbärtchen zuckte heiter. „Von der Luft kann man auch in Italien nicht leben, leider –“

„Sehr richtig!“ rief Rutenberg.

„Also auf Wiedersehn“ –

„Guten Appetit!“ wünschte Schilcher.

Der junge Mann grüßte und ging. Schilcher begleitete ihn bis zur Thür, die er ihm zuvorkommend öffnete, von der Schwelle aus sah er ihm dann nach, sah, wie er die Treppe hinabstieg. Na ja, dachte er sorgenvoll, aber ob er da unten wirklich essen will, das ist noch die Frage. Sah mir so aus, als hätte er was vor! – – Ich kann ja auch noch mal die Treppe hinuntergehn.

Er machte die Thür von außen zu und ging dem Adonis nach.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_723.jpg&oldid=- (Version vom 2.12.2021)