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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich danke! Will noch etwas lernen. Italienisch! Ich bin noch so dumm!“

Sie legte die Noten zusammen, trat an den großen runden Tisch, auf dem neben allerlei Zeitungen und Heften ihre kleine italienische Grammatik lag. Die Engländerin schlug noch leise eine Melodie an, die der andächtig horchende Schilcher nicht kannte; dann stand sie auf, warf einen Blick durch die Glasthür auf den großen Balkon und in die blaue Nacht hinaus und ging durch die Korridorthür davon.

Schilcher setzte sich an den runden Tisch; es machte ihm Vergnügen, so ganz unvermerkt der Trudel zuzuschauen, wie sie sich mit ihrer siebzehnjährigen eckigen Grazie bewegte. Als sie sich in ihr Buch vertiefte, kam aber die wehmütige Erschlaffung über ihn, die bis jetzt keinen Abend ausblieb. Er sah im Geiste den dicken Lugau vor sich, wie er Karten gab, und Wild, wie er sie aufnahm und die Augen groß machte. Mit einem ganz leisen, verstohlenen Seufzer fing er an, die Daumen übereinander zu rollen. Ihm gegenüber, auch am Tisch, saßen zwei Damen, die er sogleich für Lugau und Wild hingegeben hätte, alte, vertrocknete, auffallend hagere und häßliche Geschöpfe, so häßlich, daß man sie immer wieder anschauen mußte; die eine las und die andre stickte.

Ein Herr, der mit seinem Fernglas an der Fensterthür stand und schräg auf den nächtlichen Golf hinaussah, ein Amerikaner schob sein kleines Rohr jetzt zusammen und kam, ernsthaft und zutraulich wie immer, auf den träumenden Schilcher zu. „Der Vesuv glüht heute abend wieder sehr stark,“ sagte er in recht gutem Deutsch, mit seiner ruhigen, freundlichen Bestimmtheit.

„So?“ entgegnete Schilcher. „Hab's noch nicht bemerkt.“

„Es fließt wieder neue Lava aus.“

„Schön“, sagte Schilcher.

Das ist doch merkwürdig, dachte er dann, dieser Mann wirkt doch regelmäßig wie eine Zuckerdose auf mich, die man langsam auf und zu macht. Ich komme immer ins Gähnen! Er gähnte auch schon wieder, hinter seiner Hand, es war aber ein leiser Genuß darin. Danke! dachte er auch.

Der Amerikaner, als hätte er nur diesen Erfolg seiner Anwesenheit abgewartet, ging zwei Schritte weiter, zu Gertrud, die eben lächelnd von ihrer Grammatik aufblickte. Er sah auf seine Uhr: „Und Ihr Herr Vater ist noch nicht da?“

„Er kommt ganz gewiß,“ erwiderte Gertrud, um ihn zu beruhigen.

„Von Pompeji?“

„Nein, von Neapel.“

„Es kommt aber von Neapel jetzt am Abend kein Dampfer mehr –“

Gertrud fiel ihm freundlich lächelnd in die Rede: „Beunruhigen Sie sich nicht, Herr White. Er nimmt einen Wagen, denn er fährt zu Lande; und er kommt gewiß.“

„Der Vesuv glüht wieder stark“, bemerkte der Amerikaner.

„Ja,“ sagte Gertrud.

Herr White wandte sich wieder zu Schilcher: „Wollen Sie die neue Lava sehn?“ Gefällig wie immer hob er sein Fernglas.

„Ich danke“, antwortete Schilcher. „Sie wird ja noch ’ne Weile fließen.“

„O, ja!“ Der Amerikaner ging wieder zur Balkonthür mit seinem gleichmäßigen, festen Schritt, und schaute wieder durchs Glas hinaus. Im Salon war's still. Außer den beiden „Mumien“, wie Schilcher die alten Damen bei sich nannte, saßen nur noch zwei junge Deutsche an einem kleinen Tisch und spielten Domino. Schilcher sah ihnen wehmütig zu; ihm war, als hörte er Wilds helle Stimme sagen: „Wir haben drei Trick!“

„Amerei, ich würde lieben,“ begann Gertrud nur so mit den Lippen, kaum hörbar, aus ihrer Grammatik zu lernen. „Amersti, du würdest lieben; amerebbe, er würde lieben ; ameremmo, wir würden lieben …“

„Na, Trudel?“ fragte Schilcher mit gedämpfter Stimme hinüber, da das Mädchen eben aufschaute, als störe sie ein Gedanke im Lernen. „Bist ein bißchen müde?“

„Ich? Wovon?“ fragte sie zurück.

„Von unsrer großen Wanderung heute vormittag.“

„Aber Onkel Schilcher! Meine jungen Beine. Und in der himmlischen Herbstluft! – Du, mir scheint hier ist ewig Herbst!“

Er nickte: „Und zu Hause schneit's!“ – Und da spielen sie Whist! dachte er dann freilich, sagte es aber nicht.

„Nein, wie war's da oben auf dem Hügel schön!“ fuhr das Mädel fort. „Sieh, wie die Myrte an meiner Brust noch blüht. – Und wir saßen da wie auf einem Thron, die beiden beherrschten Golfe unter uns, der von Amalfi und Salerno rechts, der von Neapel links … Du, Onkel Schilcher, ich find’ aber eigentlich die Berge bei Amalfi schöner; gewaltiger, wilder, zerrissener; da ist Leben drin – Donnerwetter!“

„Das finden manche,“ sagte Schilcher, die Daumen rollend; „besonders junge Leute. Aber unsre Felsen hier sind stilvoller –“

„Glatter, geleckter,“ warf sie ein.

„Edler, vornehmer, aristokratischer! – Was ziehst du da aus der Tasche?“

„Die erste reife Orange!“ sagte Gertrud und hielt die goldgelbe Kugel in die Höhe. „Die hab’ ich heut’ nachmittag selbst vom Baum gepflückt; hier in unserm Garten; der Padrone kam und bot mir's an; du glaubst nicht, wie galant er war. Ich dankte ihm aber auch in meinem schönsten Italienisch; das „grazieflötete ich ordentlich. – Selbst vom Baum gebrochen, das ist doch Poesie, Onkel Schilcher!“

„Was wollt’ es nicht. – Sehr!“

Sie machte die Orange auf, um sie zu essen. „Willst du Halbpart?“

„Danke,“ erwiderte er. Nach einem still humoristischen Blick auf die alten Damen rückte er ihr näher und flüsterte: „Trudel, mir fehlt hier was.“

„Armer Onkel Schilcher! Die Whistpartie?“

„Auch. – Noch etwas.“ Er warf noch einen Blick auf die beiden Damen „Eine dritte Parze,“ flüsterte er.

Gertrud lachte leise. „Das sind keine Parzen,“ sagte sie dann ohne Stimme; „das sind die beiden neuesten Ausgrabungen …aus Pompeji.“

„So! – Wer hat dir das gesagt?“

„Die Dominospieler da.“

Sie löste jetzt ein Stück von der Orange und steckte es in den Mund; „o!“ rief sie dann aber. „Die Orange ist noch sauer. Diámine!“ – Die Engländerin vom Klavier trat eben wieder ein. „Sie hatten recht“, sagte das Mädchen lustig zu ihr hinüber: „diese schöne Orange hat keine schöne Seele.“

Na ja, dachte Schilcher: wie der schöne Arthur!

10.

Zusammengerollte Notenhefte in der Hand, kam Rutenberg vom Korridor in die Thür; er hatte sein jugendlichstes, lebensfrohestes Gesicht, wie in seinen besten Zeiten. „Guten Abend!“ meldete er sich. „Da bin ich!“

„Endlich!“ sagte Gertrud, stand auf und ging ihm entgegen. Ihn mit beiden Händen fassend, lehnte sie sich ein wenig an seine Brust; er lächelte sie an.

„Die kleinen Pferde liefen wie die Teufel,“ sagte er dann, halb zu Schilcher gewandt: „in anderthalb Stunden von Castellamare bis hier, vors Hotel. So am Golf entlang, in der lauen Nacht – eine Götterfahrt! Der Mond war noch nicht herauf, aber der Vesuv glühte wie eine Fackel. Und so dumpf, so geheimnisvoll rauschte das Meer unten an den Felsen –“

„Vater wird noch Dichter!“ warf das Mädel dazwischen, halblaut zu Schilcher hinüber. Rutenberg schlug ihr zart auf die Wange.

Die Engländerin fragte vom runden Tisch her: „Sie hatten einen schönen Tag in Neapel?“

„Einen Frühlingstag,“ antwortete Rutenberg. „Die Kerle schrieen auf den Straßen, daß es eine Lust war. Zwanzigtausend ungefähr haben mich angebettelt. Da hast du auch deine Noten, Kind!“

Er drückte dem Mädchen die Rolle in die Hand. „Danke,“ sagte sie. „Guter Vater!“

„Du, es war eine lange Jagd, bis ich diese neapolitanischen Lieder alle beisammen hatte. Dann noch drei Stunden im Museum, fleißig wie ein Professor!“

Der Amerikaner war von der Glasthür herangetreten; mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_719.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)