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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Zwischen den ruhig ziehenden Müttern tummeln sich die Kitzlein umher und treiben ihre munteren Spiele wie ausgelassene Schulkinder, sie jagen sich, versuchen harmlose Kämpfe und machen kleine Schlittenpartien über den steilen Schnee. In dem Dreijährigen erwachen sehnsüchtige Gefühle, und er beginnt bei den Schönen ein nicht gerade schüchternes Werben. Da verhofft er plötzlich, äugt gegen die höheren Wände hinauf und stampft mit den Läufen.

„Passen S’ auf jetzt,“ flüstert der Jäger, „da is der Alte nimmer weit!“

Wir suchen die Wand mit dem Fernrohr ab – und richtig, dort oben steigt er über den Grat herauf, „aber scho’ a höllischer Deufi, stolz und kraftvoll, scharf abgehoben vom blauen Himmel, so daß sich mit dem Glas die hohen Krickeln und die wehenden Zotten des Bartes deutlich erkennen lassen.

„Sakra, sakra,“ meint der Jäger, „den wann S’ kriegen, da können S’ Eahna gratulieren!“

Alle Kälte in Blut und Gliedern ist jäh verflogen und mit heiß erregten Schlägen hämmert das Herz.

Ein paar Minuten äugt der Alte regungslos auf das Rudel nieder, dann plötzlich kommt er über die Wand herabgefahren daß die Steine prasseln. Inzwischen hält sich der Dreijährige eine Weile in scheuer Ferne, dann beginnt er das Rudel in Unruh’ zu umkreisen und schlängelt sich immer näher an dasselbe heran. Aber ein paar zornige Sprünge des Alten jagen ihn wieder in die Flucht. Einsam steht nun der Verscheuchte auf einem Schneegrat. Die Sache scheint ihm nicht zu gefallen Er stampft mit den Läufen, schüttelt die Lauscher, und dann entscheidet er sich für das bessere Teil der Tapferkeit, fährt über den Schneegrat nieder und verschwindet in einem Graben des Almfeldes.

Wir kümmern uns nicht weiter um die Richtung seiner Flucht und lassen den Alten und sein Rudel nicht aus den Augen. Doch jählings pfeift es ein paar Dutzend Schritte neben uns, und als wir aufblicken, steht der Dreijährige zwischen den niederen Latschen. Er scheint von unsrem Anblick ebenso betroffen wie wir von seinem unerwarteten Auftauchen. Einige Minuten währt diese gegenseitige regungslose Musterung, bis ihm der Jäger mit einer scheuchenden Handbewegung zumurmelt: „Geh, du Springerl, fahr’ ab!“ Das läßt sich der Bock nicht zweimal sagen; erschrocken schlägt er um, saust durch die Latschen thalwärts und pfeift noch ein paarmal, da er schon verschwunden ist.

Obwohl die Entfernung zwischen uns und dem Rudel weit über tausend Schritte beträgt, sind doch die Pfiffe des Flüchtlings bis zu ihm hinaufgedrungen. Ein paar Geißen, die sich schon zur Ruhe niedergethan, springen wieder auf, der Alte klettert auf einen Felsblock, und so äugt das ganze Rudel zu uns nieder. Ein Glück, daß uns die Sonne im Rücken steht – ihr blendender Glanz macht den Gemsen ein deutliches Gewahren unmöglich. Dennoch scheinen sie Gefahr zu wittern, denn eine Kitzgeiß beginnt über das Schneefeld empor zu ziehen, als wollte sie in die Felswand einsteigen.

„Auweh zwick! Jetzt is gefeit!“ brummt der Jäger und schließt die Vermutung, daß wir für heute leer nach Hause gehen würden, mit einem derben Fluch.

Seine böse Ahnung scheint sich zu bestätigen, denn langsam zieht das ganze Rudel der führenden Kitzgeiß nach. Gemächlichen Schrittes und zuweilen den schwarzen Pelz schüttelnd, steigt der Alte hinter dem Rudel her, und wir folgen ihm seufzend mit den Blicken. Da jagt er plötzlich über den steilen Schnee hinauf und sprengt die Geißen von der Wand zurück auf den Lahner. Das ganze Rudel steht dicht gedrängt und äugt über das Almfeld hinaus.

„Himmel Saxen!“ zischelt der Jäger in heißem Eifer. „Da schang’S’ ’nüber! Da steigt oaner her über d’ Schneid … und gar koa schlechter net! Sakra, sakra, jetzt geht a G’schäft!“

Richtig, ein guter Bock, schwarz wie Kohle, ist am Saum des Almfeldes erschienen. Er hat das Rudel gewahrt und wollte über den Schnee einher, seinen Weg durch spielende Sprünge kürzend. Dann wieder steht er, wirft auf und schlägt mit den Läufen. Der Alte zieht ihm entgegen, zögernd, als wollte er vorerst mit Bedacht die Kraft des nahenden Gegners prüfen.

„Geben S’ acht, dö packen anander!“ flüstert der Jäger. „Von dene zwoa, da woaß i net, was für oaner der besser’ is … von dene zwoa giebt koaner so leicht net nach!“

In wachsender Erregung sehen wir durch das Fernrohr dem Drama der Eifersucht zu, das sich dort oben auf dem steilen Schneefeld abspielen will. Deutlich gewahren wir durch das Glas, wie der Alte zornig die Oberlippe aufzieht, und trotz der Entfernung glauben wir, seinen blökenden Kampfruf zu vernehmen. Schon sind sich die beiden Gegner bis auf wenige Schritte nahe gekommen. Sie stehen regungslos voreinander, mit gesenkten Krickeln – es scheint, als hätte jeder Respekt vor der Kraft des andern und keiner so recht den Mut, um den unsicheren Kampf zu beginnen. Langsam und neugierig zieht das Rudel näher, und als hätte die Gegenwart seiner Huldinnen die Kampflust des Platzbockes befeuert und seine Eifersucht gesteigert, so rennt er mit kraftvollem Sprung auf seinen Gegner los. Wir hören, wie die Krickeln aneinander schlagen. Aber schon ist der Angreifer mit blitzschnellem Sprung wieder zurückgefahren und steht erwartend. Da holt der Gegner zum Angriff aus, beim Stoß verfangen sich die beiden Kämpen mit den Krickeln, und so zerren sie sich hin und her, daß es sich aussieht wie ein drolliges Spiel, nicht wie ein ernster Kampf. Endlich kommen sie los voneinander, und der Alte retiriert, als wäre ihm schon halb der Mut gesunken. Das befeuert den Rivalen, und mit derben, immer hitziger werdenden Stößen bedrängt er den Platzbock, der sich aufs Parieren verlegt, und dessen Kräfte immer mehr zu erlahmen scheinen. Aber diese scheinbare Schwäche ist nur schlaue Taktik des alten geriebenen Burschen. Als sich der Gegner, der in heißem Ungestüm den Kampf mit einem Gewaltstreich beenden will, auf die Hinterläufe hebt, um mit gesenkten Krickeln den Rivalen am Nacken oder auf dem Rücken zu fassen, fährt ihm der Alte mit wuchtigem Stoß in die Weichen. Der Getroffene überschlägt sich und kugelt über den steilen Hang hinunter, umwirbelt von stäubendem Schnee. Mühsam erhebt er sich, aber da rennt der Alte schon wieder mit wütendem Sprung auf ihn los, und in wilder Jagd sprengt er den Besiegten gegen die Tiefe des Almfeldes.

„Teuifi no’ amal! Jetzt aber g’schwind! Jetzt gilt’s!“

Wir gleiten durch die Latschen hinunter in eine Mulde, und drüben geht’s mit Keuchen wieder hinauf über Schnee und Geröll. Kaum haben wir, noch atemlos, die Höhe des Almgrates erklommen, da saust auch schon mit hängendem Lecker und stöhnend der gesagte Bock an uns vorüber. Einen tiefen Atemzug, den Hahn gespannt und die Büchse an die Wange – jetzt taucht mit rasenden Sprüngen der Sieger vor uns auf, doch bei dem Pfiff des Jägers verhofft der Bock, halb verschleiert vom aufwirbelnden Schnee. Dröhnend hallt der Schuß über das Almfeld hin – im Feuer schlägt der Gemsbock um und verschwindet in einer Mulde. Auf dem jenseitigen Hang erscheint er wieder und flüchtet gegen das Rudel hin – eine zweite Kugel soll ihn einholen, aber da bricht er zusammen und rollt verendet über den Schnee. Ein heller Jauchzer schwingt sich auf in das sonnige Blau, während von den steilen Wänden die Steine niederprasseln, die das flüchtende Rudel löste.

Ein Stündlein später treten wir, der Jäger mit dem geschränkten Bock über den Schultern und der glückliche Schütze mit dem frischen Latschenbruch auf dem Hut, in die einsame und halb verschneite Sennhütte, deren Stube einen öden und unwirtlichen Anblick bietet. Alle Glieder zittern uns vor Kälte und Erschöpfung, die Augen sind rotgerändert und brennen vom blendenden Schneeglanz, den wir durch lange Stunden ausgehalten – aber wir lachen, als kämen wir von lustiger Maifahrt, und mit sprudelndem Eifer wird die ganze Jagd noch einmal durchgeplaudert. An dem Maßstab, der in den Bergstock eingeschnitten ist, wird die Höhe des überaus starken Krickels und die Länge des sorgsam ausgerupften Gemsbartes gemessen – wobei der Jäger mit heiligen Eiden schwört, daß „a sölchener Bock in hundert Jahr’ nimmer g'schossen woard!“

In der Aschengrube wird ein flackerndes Feuer angeschürt, dessen Schein die verwahrlose Almstube freundlich überglänzt. Von der aufsteigenden Hitze des Feuers beginnt auf dem Hüttendach der Schnee zu schmelzen, und die Tropfen fallen und plätschern, als möcht’ es draußen schon Frühling werden. Während wir plaudernd rings um das Feuer sitzen, die starren Glieder wärmen und uns so recht von Herzen wohlig fühlen, meint der Jäger: „Gelten S', so a gut's Fuierl geht für a halbe Mahlzeit?“ Er schmunzelt. „Und wär’ a lieb's Madl dabei, so ging's für a ganze!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_716.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)