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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Na?“ sagte er, nachdem er die Thür ziemlich unsanft hatte ins Schloß fallen lassen. „Was machst du denn für Streiche? Meldest dich einfach krank?“

Er trat an ihr Bett und beugte sich über sie. Bis zum Kinn war sie zugedeckt, ihr heute morgen noch bleiches Gesicht war jetzt fieberich gerötet, in den Augen ein unruhiger Glanz.

„Du mußt schon entschuldigen,“ sagte sie fast tonlos – sie war noch heisrer geworden – „daß ich dich so vernachlässige.“

„Natürlich muß ich entschuldigen, was soll ich sonst anfangen? Bleibt mir ja nichts weiter übrig.“

„Gegen den Doktor war eben nichts zu machen. Ich mußte gehorchen.“

„Ja, wenn der sich auf die Hinterbeine setzt! Aber – steht dir ganz gut, die Krankheit. Niedlich siehst du aus mit so einem bißchen Fieber.“

Er stützte die Hände zu beiden Seiten auf ihr Kopfkissen und beugte sich tiefer zu ihr herab. Angstvoll sah sie ihn so nahe über sich. so groß, so breit und mächtig, und mit diesem Lächeln – –

„Bitte,“ hauchte sie, den Kopf zur Seite wendend, „mir ist so beklommen –“

„Ja, warum bist du auch so fürchterlich zugedeckt, da mußt du ja ersticken.“

Er griff nach ihrer Decke.

„Nicht – das will der Doktor so.“

„Lächerlich. Runter damit von Hand wenigstens gieb her. Ich hab –“

Aus der Rocktasche zog er das Päckchen, an einem Zipfel des Seidenpapiers anfassend, ließ er es sich auf der Bettdecke auswickeln und öffnete mit einem Fingerdruck die rotlederne Kapsel. Ein kostbares Armband lag darin.

„Sofort anzuprobieren. So heißt mein Rezept. He? Wie behagt das der kleinen Putzdocke?“

Er streifte ihren spitzenbesetzten Aermel in die Höhe und legte den juwelengeschmückten Reif um das zarte Gelenk. Es hätte ihr nichts geholfen, wenn sie sich dagegen gewehrt hätte, es hätte ihr nichts geholfen, wenn sie gesagt hätte: „Was soll ich mit dem Ding? Ich mache mir aus solchen Sachen gar nichts, du weißt das ja recht gut.“ Sie hielt schweigend still, zupfte nur sacht mit der freien Hand den emporgeschobenen Aermel herab.

„Na? Was ist das für ’ne leblose Miene? Wirst du gleich ein freundliches Gesicht machen?“

Es gelang ihr nun, zu lächeln, sie nickte ihm auch zu. Ein Hustenanfall ersparte ihr das Sprechen für den Augenblick. „Wär’ er nur schon wieder draußen,“ dachte sie. „Ich lieg’ hier so elend hilflos, kann nicht fortgehen. Warum hab’ ich ihn nur hereingerufen? Ja, um mich zu entschuldigen. Wär’ er nur schon weg!“

„Gieb zu,“ sagte Ludwig, wieder nahe über ihr, „daß du einen guten, netten, lieben Mann hast. Und bedank’ dich auch.“

„Gewiß bedank’ ich mich,“ flüsterte Hanna, nur auf das letzte antwortend. „Es ist sehr schön.“

„Das ist kein ordentlicher Dank“, unterbrach Ludwig, der wohl spürte, wie sie seinen Augen auswich. „Das macht man ganz anders. Ich muß es dir wahrhaftig zeigen. Und schnell drückte er seine Lippen auf ihren Mund.

Der Klang der Hausglocke scheuchte ihn auf. „Wahrscheinlich der olle Brummkater, der Meinhardt,“ sagte er verdrossen. „Da drück’ ich mich lieber hier heraus. Wenn er mich nachher sprechen will, ich bin drüben, rauche noch eins. Uebrigens eß ich heut’ abend bei Uhl, mit Rönneberg zusammen. Ich komme noch, dir Gute Nacht sagen. – –“

In ihrem stillglühenden Abendfieber lag Hanna allein. Sie wollte es so. Sie hatte das Mädchen hinausgeschickt, das nun im Nebenzimmer nähend saß, für jedes Klingelzeichen bereit.

Der Doktor war dagewesen, hatte die Einwicklung zu erneuern befohlen, über die unnötige Höhe der Temperatur und die Verschlimmerung des Hustens gezankt und dem zärtlichen Ehemann, der sich viel zu lange mit ihr unterhalten hatte, für die nächsten zwei Tage jeden Besuch des Krankenzimmers überhaupt verboten.

Neun Uhr vorbei. Ludwig ausgegangen. Alles still ringsum.

Sie hatte sich nach dieser Stille sehr gesehnt. Auch nach der Nacht und ihrer Dunkelheit. Nicht lange mehr, nachdem sie allein gelassen worden war, hatte sie die kleine elektrische Nachttischlampe, die mit ihrem rosenfarbenen Schirmchen das Zimmer in warme, weiche Dämmerung hüllte, brennen lassen. Mit ihren ruhelos weitoffenen Augen sah sie nun nichts mehr, sie hätte sich einbilden können, blind zu sein. Diese leblose Finsternis war ihr aber gerade recht. Hätte sie nur in ihr bleiben können. Hätte sie nur nie mehr an den hellen Tag herausgemußt. Sie sehnte sich sehr, heute nacht ein für allemal einzuschlafen. Wie dankbar wäre sie gewesen, wenn diese Erkältung etwas Ernstes, Entscheidendes geworden wäre, dem sie hätte erliegen müssen. Aber dieses kleine Katarrhfieber that ihr nichts, der Husten und die Heiserkeit verschwanden in einigen Tagen. Eine Woche weiter – und alles war wie sonst. Die Scham peinigte sie bis zum Gefühl von körperlichem Herzweh. Für Augenblicke ging ihr in dieser zwiefachen Nacht das Bewußtsein davon verloren, daß sie da in ihrem Bett lag. Sie glaubte sich niedergestürzt, niedergeworfen, am Boden liegend, mit Wunden bedeckt, mit ruhmlosen, brennenden, unheilbaren Wunden. Niemals, sie wußte es wohl, konnte nie mehr gesund werden, befreit werden von dieser Schmach. Sie mußte es hinnehmen, daß er sie heute küßte und morgen beschimpfte. Um ihrer einen Lüge willen mußte sie es hinnehmen. Warum nur war ihr damals, als sie ihren Opferweg beschritt, diese Lüge nicht wie ein Unrecht erschienen? Warum bedrückte sie sie jetzt, als sei sie ein Verbrechen? War es jener Augenblick in der Kirche, wo Arnold sich verriet und die Erkenntnis ihres Verlustes sie überwältigte – war es jener Augenblick, der sie und ihn zu gemeinsamer Trauer verkettete und dann für immer trennte – war er es, der sie erst zur Sünderin gemacht hatte? Vielleicht, wenn Ludwig arglos und gütig geblieben wäre, daß sich dann die verschwiegene, sorgsam verhehlte Wunde langsam ausgeblutet und sacht geschlossen hätte. Aber er war schon damals nicht arglos gewesen.

Der Schmerzensruf der armen Königstochter in Grimms Märchen fiel ihr ein ‚Wenn das meine Mutter wüßte, das Herz im Leib thät ihr zerspringen!'

Wie gut, daß sie tot war. An diesem wäre ihr armes Herz in Stücke gegangen. Wie gut, daß sie nicht wissen konnte, wie tief begraben auch ihre liebe, unsterbliche Seele lag. Der Talisman war zersplittert. Aus seinen armen Scherben fügte sich ihr kein neuer Trost, kein neuer Schutz zusammen.

Es geht nicht, Mutter. – Sie faltete ihre heißen, zitternden Hände. Es ist nichts damit. Du hast mir zu viel zugetraut. Du hättest dableiben müssen. Lebendig hättest du mir geholfen. Ich weiß ja nun doch, daß es dich nicht freut, wenn ich oben bleibe, daß es dich nicht kränkt, wenn ich zu Grunde gehe. Ich kann mich doch nicht selber anlügen. Niemals seh’ ich dich wieder. Und niemals mehr kann ich sagen: Sieh', Mutter, so traurig bin ich. Ganz und gar – – in ihrem fieberischen, schmerzlichen Sinnen kamen ihr gedruckte Buchstaben vor die Augen. Ganz und gar bin ich – wo war das gewesen? Aber ja. Goethe. In den Sprüchen. Das war für mich: Ganz und gar bin ich ein armer Wicht. Meine Träume sind nicht wahr und meine Gedanken geraten nicht. – Wär’ ich auch tot. Nur die Toten sind glücklich. – – –

Eine Woche später war die Bronchitis beseitigt, Hanna aus dem eigentlichen Krankenzimmer entlassen. Doch betrachtete der Doktor sie andauernd mit starkem Mißfallen. Dem Grund ihrer allgemeinen, tiefen „Depression“, die in gar keinem Verhältnis zu der oberflächlich verlaufenen Erkältungskrankheit stand, konnte er nicht auf die Spur kommen. Etwas aber mußte geschehen, um dieser zunehmenden Mattheit, die jedes vitale Interesse verleugnete, entgegenzuarbeiten. Eine Reise blieb das beste Auskunftsmittel. Eine Reise nach dem Süden. Die aufgeschobene Hochzeitsreise.

Ludwig war mit diesem Vorschlag des Doktors sehr einverstanden. Er erhoffte allerlei von dem ungestörten Zusammensein dort unterwegs.

So dauerte es denn auch nicht lange mit den Vorbereitungen.

Anfang März waren sie schon in Verona.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_712.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)