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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Sie soll’s gut haben! Ich zahl’ ihr 14 Dollars monatlich!“ sprach eine der Damen.

„Mutter, was meinst du dazu?“ wandte sich der Alte fragend an sein Weib.

„Mir – soll’s – recht sein,“ stotterte diese. Dabei rannen ihr leise die Thränen von der Wange.

Und die Tochter? Sie willigte ein. War sie doch nach Amerika gekommen, um viel, viel Geld zu verdienen. Wenige Augenblicke später und das junge Mädchen wird mit den eleganten Damen davonfahren, während ihre Eltern mit einem Eisenbahnzuge dem Westen zueilen, um dort als Farmer auf der Prairie sich niederzulassen. – Wird es eine Trennung für immer sein?

„Mien Söhn, o mien Söhn!“ – dieser Aufschrei weckte mich aus meinem Nachdenken. Ich blickte hin und sah ein altes Mütterchen, das weinend und schluchzend am Halse eines stattlichen jungen Mannes hing. Die Situation erklärte sich leicht. Es war ein vor mehreren Jahren ausgewanderter junger Deutscher, der, durch Arbeit zu Wohlstand gelangt, nunmehr seine alten Eltern hatte nachkommen lassen. Hier, auf Ellis Island, sah man sich nach vielen Jahren zum erstenmal wieder. Die Freude des Wiedersehens war für die Mutter zu groß, sie mußte gleichzeitig aufjauchzen und weinen an der Brust ihres wiedergefundenen Sohnes.

Es war schon Abend geworden, als ich mich von Ellis Island verabschiedete. Bei der Landung am Battery-Park in New York gewahrte ich allerhand verdächtige Gestalten, Bauernfänger, die wie eine Meute den unkundigen Einwanderer bei seinem Auftritt von Ellis Island auf Schritt und Tritt verfolgen und sie um Hab’ und Gut zu bringen versuchen. Wahre Galgenvögel!

Welch schmerzliche Kur muß nicht ein solcher Einwanderer oft durchmachen, ehe er sich ganz in der Neuen Welt zurecht gefunden hat! Jeder Neuankömmling fühlt sich zu Vergleichen zwischen dem neu gewählten und dem Mutterlande geneigt, der Anfang ist meist sehr schwer, die Erinnerungen der Jugend steigen in der Entfernung zu idealer Höhe! Bald befindet sich der Arme in jenem Krankheitszustande, der in früheren Zeiten, wo das Reisen noch auf Wenige beschränkt war, den Schweizern als erbeigentümlich zugeschrieben wurde. Das Heimweh ist bei ihm in voller Stärke ausgebrochen und weicht nur früher oder später bei dem, der Erfolg oder Glück in der Neuen Welt findet.


Das Kind.

Roman von Adolf Wilbrandt.
1.

Gertrud ging in das Bücherzimmer, das für diesen Abend in ein Rauch- und Spielzimmer verwandelt war; der große runde Lesetisch war hinausgeräumt, dafür standen drei Spieltische mit allem Zubehör, auch mit kleinen Rauchtischchen wie die Winkel eines gleichschenkligen Dreiecks da, von dem alten Pedanten Brink wie mit dem Lineal gestellt. Gertruds rosiger Träumerkopf wandte sich in der Thür zurück: „Was noch?“ fragte sie. „Kind, vergiß das Buch nicht!“ rief der Vater ihr nach. „O nein!“ sagte sie, überlegen lächelnd, und machte die Thür hinter sich zu. Die junge, noch überschlanke Gestalt ging langsam zwischen den Spieltischen durch. Ja, ja, ich hole das Buch! murmelte sie, als spräche sie noch zum Vater. Die hellen Augen wurden wieder träumerisch; unbewußt wiederholend, halb singend summte sie vor sich hin: Ja, ja, ich hole das Buch … Ja, ja, ich hole das Buch … Sie stand vor einem der hohen Büchergestelle, schaute auf die hübschen, farbigen Einbände und durch sie hindurch, ins Ferne. Von dort klang er wieder her, ihr Vers, der Vers aus ihrem Traum.

„Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor“ …

Nein, dachte sie, den Vers werd’ ich nicht mehr los. Wie sonderbar und wie feierlich klingt es. „Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor“ … Was wollt ich doch noch? Ich wollte doch was! Weiß nicht. Kann mich nicht besinnen …

In einer süßen Unruhe ging sie weiter, an den Büchern hin. „Ach,“ murmelte sie, da ihr so unbestimmt wohlig ums Herz war, „ach, ich bin so glücklich!“ – ,Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …‘

Schilcher trat geräuschlos ein, wie er pflegte, war er doch in dieser Wohnung ebenso zu Hause wie in seiner eigenen, der kleinen Junggesellenwohnung eine Treppe höher. Mit seinem einen Ohr hatte er Gertruds hingesummten Vers gehört, die kurze, hagere Gestalt blieb noch auf der Schwelle stehn und legte den Kopf auf die Seite, wie um mehr zu hören. „Was summt das Hummelchen?“ fragte er, ein wenig lächelnd. „Und immer ging sie fort. – – Was heißt das?“

Gertrud lächelte auch. „Das ist aus einem Gedicht, Onkel Schilcher, das du noch nicht kennst.“

„Was?“ sagte der alte Herr, die Augenbrauen hoch ziehend. „Gertrud Rutenberg dichtet?“

Sie schüttelte den Kopf: „Ich? O Gott! Nein! – So wenig wie du! – Ich hab’s nur geträumt.“

„Verse?“ fragte er sehr erstaunt. „Das ist mir noch nie begegnet.“

„Mir auch heute zum erstenmal; heute nachmittag. Weil ich die letzte Nacht schlecht geschlafen habe –“

„Ja, ja!“ warf er ein, mit seinem spöttischklug herzlichen Lächeln. „Vor dem ersten Fall!“

„So war ich heut nachmittag plötzlich weg – im Lehnstuhl, Onkel Schilcher – und hab’ dir so viel zusammengeträumt, es nahm gar kein Ende. Ich glaub’, es war ein ganzes Gedicht, – siehst du, im Traum, da hab’ ich Talent! – Und dieser eine Vers verfolgt mich förmlich …“

Schilcher nickte bedächtig. „Wahrscheinlich weil du den Traum noch niemand erzählt hast –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Junge Mädchen pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen … Ist dein Vater zu Hause?“

Sie nickte. Mit dem dunkelblonden Kopf nach dem Salon deutend, warf sie hin. „Doktor Wild ist da; und Lugau.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_669.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)