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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die Leitung des Institutes wurde dem Einwanderungskommissar Dr. Joseph H. Senner übertragen, der in anerkennenswerter Weise dafür Sorge trug, daß überall Ordnung und Reinlichkeit herrschte, und die detenierten Einwanderer, d. h. solche, denen aus irgend welchem Grunde die Einwanderung nicht gestattet werden durfte, in humaner Weise behandelt wurden.

Am 15. Juni dieses Jahres wurde das großartige Depot von einer Brandkatastrophe heimgesucht und es wird geraume Zeit vergehen, bis sein Wiederaufbau vollendet ist. Gegenwärtig begnügt man sich mit provisorischen Unterkunftsräumen.

Kurz vorher hatte ich Ellis Island besucht und, überwältigt von den Eindrücken, die sich mir dort boten, den folgenden Bericht niedergeschrieben, der gewiß den weiten Leserkreis der „Gartenlaube“ interessieren wird.

Auf dem Ferry-Dampfboot, welches den Verkehr zwischen dem Depot und New York vermittelt, indem es jedermann unentgeltlich befördert, begab ich mich nach Ellis Island.

Der Einwanderungskommissar gestattete mir in liebenswürdigster und zuvorkommendster Weise, mich überall frei und ungehindert zu bewegen, und wo es not that, war er persönlich mein Führer.

Zunächst postierte ich mich derart in dem großen Registrierungssaale, daß ich den „Einmarsch“ der Einwanderer von dem Hamburger Postdampfer „Pennsylvania“ am besten übersehen konnte. Neben mir standen einige in Seide und Sammet gekleidete Amerikanerinnen, die wohl ein Sonderinteresse an dem Besuch auf Ellis Island haben mochten.

Auf ein gegebenes Glockensignal öffnete sich mit einem Male die Thür zum Registrierungssaal (vgl. Abbildung S. 665), und nun zog ein Schwarm von mehreren hundert Einwanderern in den Riesensaal. Der Nationalität nach waren die meisten Deutsche, aber auch viele Oesterreicher, Ungarn, Russen, Schweizer, Schweden, Norweger und Dänen befanden sich darunter.

Im Gänsemarsch, mit Kisten, Kasten und Bündeln, altem Trödelkram und urväterlichem Hausrat, oft auch mit Säuglingen bepackt, zogen sie hier vorbei, von Aerzten einer Kritik unterworfen, um dann in durch Drahtgitter abgeteilte Räume für je dreißig Personen verteilt zu werden. Ein eigentümlicher Anblick, diese ganze Scenerie! Die jüngeren, namentlich die Mädchen, haben sich festlich geputzt, die liebe Eitelkeit der holden Jugend erlaubt ihnen nicht anders als so den Boden der Neuen Welt zu betreten. Die ältere Generation der Einwanderer befolgt indessen ein anderes Prinzip. „Für die Reise ist’s halt gut genug,“ scheint hier der leitende Gedanke zu sein. In einem Raume sehen wir eine deutsche Familie, die fast einen ganzen Stammbaum bilden. Fünfzehn Personen sind es – das zählt! Dort in einer Ecke erblicken wir ein blutjunges, hübsches Mädchen, eine Waise, kaum sechzehn Jahre alt, die mutterseelenallein die Reise übers Weltmeer machte; hier sehen wir eine Gruppe abgemagerter Männer, welche sichtlich die Not aus der Heimat vertrieb; dort sucht eine Mutter den Hunger eines schreienden Säuglings zu stillen; hier hält ein Landeskundiger seinen Schiffsfreunden, lauter jungen, flaumbärtigen Männern, einen Vortrag über die amerikanische Kunst, reich zu werden. – Und nun gar das Sprachengewirr! Die vielen Dialekte dieser internationalen Gesellschaft!

Das Registrieren beginnt. Nicht weniger als acht verschiedene Registrierungsplätze sind vorhanden. Die Schiffsmanifeste dienen zur Unterlage beim Examen der einzelnen Passagiere, und je nachdem die Fragen, den Einwanderungsgesetzen entsprechend, befriedigend beantwortet werden oder nicht, wird nun der Einwanderer als landungsberechtigt freigelassen oder aber für ein Spezialverhör nach einer Separatabteilung geführt. Die landungsberechtigten Einwanderer können sodann von etwaigen Verwandten und Bekannten in Empfang genommen werden und nach New York sich begeben, oder sie verbleiben bis zum Abgang eines Emigranteneisenbahnzuges nach dem Westen im Landungsdepot, um dann von dort gemeinschaftlich zum Eisenbahndepot befördert zu werden.

Die für Spezialverhöre zurückbehaltenen Einwanderer, deren Zahl im letzten Jahre, 1896, nicht weniger als 43 645 betrug, werden, wenn die Untersuchung jedes einzelnen Falles zu ihren Gunsten ausfällt, ebenfalls freigelassen, sonst aber, wenn der „Board of Special Inquiry“ (Untersuchungsgericht), der aus vier Inspektoren und einem Sekretär besteht, zu ihren Ungunsten entscheiden muß, nach Europa zurückbefördert. Die Zurückzusendenden werden bis zum Abgang eines Dampfers der betreffenden Dampfschiffskompagnie, die sie nach Amerika brachte, auf deren Kosten in dem Landungsdepot untergebracht.

Die Zahl solcher zurückbeförderten Einwanderer belief sich im letzten Jahre auf 2374, es waren vorzugsweise Italiener, Ungarn, Oesterreicher, Russen, Engländer, Irländer, davon die Mehrzahl „mittellos“ und „Kontraktarbeiter“. Die Italiener, Russen und ein Teil Oesterreicher und Ungarn bilden auch ein großes Kontingent der „Illiteraten“, denn 50 Prozent der ersteren und 25 bis 30 Prozent der Einwanderer der letzteren beiden Nationalitäten können weder lesen noch schreiben.

Das interessanteste Schauspiel, das wir auf Ellis Island genießen können, vermittelt jedenfalls der Besuch des Bureaus des „Board of Special Inquiry“ während einer Sitzung desselben. In diesem Raume gewahren wir die Schattenseiten des Einwandererlebens. Hunger, Not, Krankheit, Faulheit, Liederlichkeit, Verführung und Irrsinn haben sich hier ein Stelldichein gegeben. Rechtschaffene Menschen, die unverschuldetes Elend drückt, gescheiterte Existenzen, die eignes Verschulden herabbrachte, stellt das Schicksal hier nebeneinander. Es sind alles zurückgehaltene Einwanderer, über die hier die Jury das Urteil fällen und deren Schicksal – ob sie Amerika betreten dürfen oder nicht – sie besiegeln soll.

Und welch’ heitere und wiederum ernste Scenen kommen hier zur Schau! – Da wird ein russischer Jude, der schon einmal zwei Jahre lang in Amerika gewesen sein will, einem scharfen Verhör unterworfen. Er spricht ein wenig gebrochen Englisch.

Der Vorsitzende fragt ihn. „Was warst du hier in Amerika?“

Die Antwort lautet: „Schneider!“

Der Vorsitzende fragt wieder. „Have you never been begging here?

Das Wort begging ist dem Russen unbekannt, und unfähig, zu antworten, wendet er sich an den Dolmetscher um Beistand.

Dieser erklärt ihm ganz deutlich. „Du sollst sagen, ob du hast geschnorret, als du sein gewesen in Amerika.“

„Gott der Gerechte soll mich bewahren, wenn ich hab’ geschnorrt“ antwortet der arme Teufel, und da ein ihm bekannter, in New York ansässiger Landsmann sich eingefunden hat, der sich der Einwanderungskommission gegenüber verpflichtet, dafür zu garantieren, daß der Neuankömmling der öffentlichen Armenpflege nicht zur Last fallen wird, so wird ihm die Landung gestattet. Ein anderer Russe, ein junger Farmer, ist nicht so glücklich wie sein Vorgänger. Er ist ein kerngesunder, kräftiger junger Mensch, der tüchtig zu arbeiten vermag, aber – nur 15 Cents Barvermögen bei sich hat, so daß, den Gesetzen des Landes entsprechend, dieses junge, treuherzige Blut nach Rußland zurücktransportiert werden muß. Wenn es nicht gelingen sollte, jemand in den nächsten Tagen zu finden, der den jungen Mann engagiert und mit sich nimmt.

Eine Italienerin, Witwe mit drei kleinen Kindern und einem erwachsenen neunzehnjährigen Sohne, erklärt der Jury, daß sie alle zwar mittellos sind, ihr Sohn jedoch arbeitskräftig ist und ihr Ernährer sein will. Ungläubig sehen sich die Jurymitglieder gegenseitig an und schütteln die Köpfe. Doch der Jüngling weiß durch seine ungeschminkte Klarlegung der Sachlage einen so günstigen Eindruck auf die Jury zu machen, daß sie, zumal sich auch noch Landsleute für die Einwanderer verbürgen, der Familie den Eintritt in die Neue Welt nicht verwehrt.

Nun tritt ein älterer Deutscher, der in den Fünfzigern steht und Schiffbruch in seinem Leben erlitten haben muß, vor und bekennt, daß er unbemittelt ist und seine Familie, Frau und Kinder, sich noch in Deutschland befinden. Eine ihm bekannte deutsch-amerikanische Familie will ihm Arbeit verschaffen. Da tritt auch schon die Frau eines deutschen Restaurateurs aus New York vor und erklärt. „Wir kennen den Mann und wollen ihn beschäftigen als Aufwascher und Hausknecht in unserem Restaurant.“

„Und wenn der Mann nicht zu Ihrer Zufriedenheit arbeitet? Was dann?“ fragt sie ein Jurymitglied.

„Dann schicken wir ihn wieder auf unsere Kosten derheme,“ ist die schlagfertige Antwort der Frau.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_667.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)