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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

siebzehn Jahre her sein. So endlos viele Tage, wie sie seitdem erlebt hatte! –

Nein, es war vorgestern geschehen, gestern, daß sie sie mit den Rosen in der Hand hatte wecken wollen, und daß sie da gelegen hatte mit diesem fürchterlich stummen Gesicht, mit diesen fest, fest geschlossenen Augen. Ohne Atem. Ohne Bewegung!

Sie hatte sich so in früheren Zeiten, wenn sie in sorgenwachen Nächten an ihrem Bett gesessen hatte, immer wieder vorzustellen versucht, wie es sein würde, wenn dieses Entsetzlichste auf der Welt geschähe, und sie ihr stürbe. Hatte sich mit dem Gedanken zermartert, wie das liebe Gesicht wohl im Tode aussehen würde. Vielleicht wie da im Schlaf, im Erschöpfungsschlaf nach schweren Schmerzen?- Sie hatte nichts geahnt von dieser steinernen, unerschütterlichen Ruhe, von dieser Undurchdringlichkeit, von dieser Unbarmherzigkeit des Schweigens. Sie hatte nichts geahnt von diesem Friedenslächeln, das allgemach den starren Ernst verklärte. Von diesem Lächeln , an dem sie keinen Teil mehr hatte, das nicht ihr mehr galt, das keine Antwort gab auf ihre Frage: an was für Liebes denkst du, Mutter? –

Sie hatte sich vorzustellen versucht, wie es sein würde, wenn sie sie nicht mehr hätte, wenn sie fort wäre aus der Welk wenn sie sie nie mehr sehen konnte. –

Mit allem Schauder der Vorahnung, mit allem Jammer der Seelenangst hatte sie das Wirkliche nicht erreicht. Wie wäre es auch möglich, sich auszudenken, was nicht auszudenken ist.

Kein Nachher, Mutter!

Und nun?

Winter und Sommer werden vergehen, ohne dich. Blumen werden blühen, Schnee wird fallen, ohne dich. Weihnachten wird kommen, dein Geburtstag wird kommen, ohne dich. Ich weine, und du weißt es nicht. Ich sehne mich nach dir, und du weißt es nicht. Ich bin allein, ich fürchte mich, und du weißt es nicht. Du bist fort, aus der Welt hinausgegangen, verschwunden, kommst nie wieder! – –

Wie der Regen strömte. Wie er an den Fenstern in zackig schimmernden Rinnen hinunterlief. Grauer, dunkler Himmel!

Auch auf dein Grab fällt der Regen nieder, Mutter, fließt darum her. Aber das kümmert dich nicht, du weißt es nicht. Sonst – wenn die Blätter fielen, wenn wir vom Sommer Abschied nahmen, wie dir vor dem Winter bange war! Dich friert nicht mehr. Ich kann dir nicht mehr deine armen, kalten Füße wärmen. Du bist eingeschlafen, heimlich, in der Nacht, hast nicht gewußt, daß du sterben müßtest, hast nicht gewußt, daß ich hier geblieben bin, ohne dich, daß ich nun aushalten muß hier, ohne dich, bei ihm, dem ich mich verkauft habe für Geld. Um deinetwillen, Mutter, aber doch verkauft! Wenn du wüßtest, wie schwer es mir geworden ist, damals, im Frühling. Wenn du wüßtest, wie mir nun graut. Ich kann’s ja jetzt sagen, ich kann es rufen, hier in meiner Stube, du hörst es nicht mehr, es thut dir nicht mehr weh. – – Wenn er nach Hause kommt, bin ich schon wieder brav. Ich darf ja nicht von dir sprechen. Ich dürfte schon, aber er hat’s nicht gern, ich weiß. Es ist ihm unbequem, es quält ihn, es stört ihn. Er will eine freundliche Frau, die für ihn allein da ist, die nicht an andere Sachen denkt. – –

Geschehene, unwiderrufliche Dinge müssen überwunden werden, dürfen sich nicht immer wieder vordrängen, mahnt er. Das Leben gehört den Lebenden. Auch die Liebe. Verstorbene, auch wenn sie noch so teuer waren, dürfen nicht den größten Platz im Herzen einnehmen. Damit geschieht den Lebenden unrecht. Und die Toten haben nichts davon. – –

Das war nun schon viele Wochen her und seitdem hatten sie über diese Dinge nicht mehr gesprochen. Besser nicht. Und sie hatte sich Mühe gegeben, sich nicht mehr gehen zu lassen in seiner Gegenwart. Er schien im allgemeinen zufrieden mit ihr.

Die Vergangenheit schlief da drunten, hinter der verschlossenen Thür, im Dunklen hinter den schweren Rollläden. – Hier, auf der anderen Seite des Hauses war die Gegenwart mit ihrem Glanz, mit ihrer raffinierten Pracht, mit ihrem elektrischen Licht und ihren Perserteppichen, mit ihren Oelgemälden „erster Meister“, mit ihren Gobelintapeten im Boudoir und ihren Butzenscheiben im Rauchzimmer, mit ihren ledergepunzten Stühlen und ihren damastnen Ottomanen. Die Gegenwart mit ihrer unabweisbaren Pflicht, das Leben müßig zu genießen, in den Tag hineinzuleben, sich um nichts zu sorgen als um die gute Laune des lieben Mannes, dem man dieses Brillantfeuerwerk, diesen Goldregen verdankte. O verhaßtes Geld!

Die Vergangenheit schlief draußen auf dem Friedhof ihren schweigenden Todesschlaf. Sie schlief mit ihrem Andenken an arbeitsvolle Tage, an sorgendurchwachte Nächte, mit ihrem Andenken an viel Kummer und Not und viele kleine, sonnengoldige, herzwarme Freuden. Mit ihrem Andenken an Liebe und wieder Liebe.

Hannas starre Gestalt rührte sich. Sie hob die aufs Fenstersims gestützten Hände und drückte sie an die Schläfen, über die Augen.

„Mutter!“ – schluchzte sie auf.

Sie wandte sich ab und ging mit unsichern, schleppenden Schritten im Zimmer hin und her.

„Nicht weinen, nicht weinen,“ murmelte sie, faßte ihr Taschentuch zwischen die Zähne und schluckte krampfhaft. – „Nicht erst anfangen zu weinen. Denn wie endet das. Hart, hart!“

Wieder am Fenster stehend, bemüht, sich zu sammeln, sah sie eine Gestalt in ihr Gartenthor einbiegen, eine wohlbekannte, behäbige Gestalt. Den Schirm tief über den Kopf gezogen, vorgebeugt gegen den Sturmwind angehend, kam der Pastor langsam den Weg herauf.

„Da!“ sagte sie auffahrend. „Endlich! Und ich habe den Wagen bestellt …Schnell – –“

Sie klingelte.-- „Lassen Sie wieder abspannen,“ befahl sie hastig dem eintretenden Diener. „Ich fahre nicht aus. Ich sehe Pastor Erdmann auf’s Haus zukommen. Er muß in diesem Augenblick schon unten an der Thür sein. Führen Sie ihn gleich zu mir herauf. Nun? Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Schnell, schnell, daß der Herr Pastor nicht erst wartet!“

„Sehr wohl!“

21.

„Lieber Herr Pastor! Endlich!“ Sie nahm seine beiden Hände. „Wie gut, daß Sie da sind!“ Ihre Lippen zitterten, sie atmete ein paarmal tief auf, um ihre Bewegung zu meistern. „Daß Sie nur endlich einmal kommen!“

„Endlich?“ wiederholte er und sah sie freundlich forschend an. „Ich war schon dreimal hier, außer heute.“

„Nein“ sagte sie laut, erstaunt.

„Doch. Man gab mir regelmäßig den Bescheid, Sie empfingen noch keine Besuche. Es dürfe überhaupt gar nicht bei Ihnen darum angefragt werden. So ließ ich denn nur jedesmal meine Karte und meinen Gruß für Sie da.“

Hanna sah mit scharfgespanntem Gesicht, mit gerunzelter Stirn geradeaus, über seine Schulter weg ins Leere. Sie drückte die Lippen fest zusammen.

„Also“ – sagte sie nach einer Pause, nach einem nervösen Räuspern, „setzen Sie sich vor allem, lieber Herr Pastor. Von Ihren vergeblichen Besuchen weiß ich nichts, auch nichts von Ihren hiergebliebenen Karten. Ein Mißverständnis. Ich werde das – – aber gut. Abgemacht. Sie sind da, das ist die Hauptsache. Ich danke Ihnen, daß Sie immer noch wieder gekommen sind. Wenn Sie wüßten, wie froh ich bin, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen? Wie leben Sie?“

„Das mein liebes Kind zu fragen, kam ich her. Von mir soll jetzt nicht die Rede sein.“ Und als sie nur stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, den Kopf schüttelte, fuhr er fort. „Doch, doch! Dazu kommt man unter sehr guten Freunden zusammen, daß man sich auch in schweren Zeiten fragen darf: wie lebst du? wie gelingt’s dir? was thust du den Tag über, damit du nachts Ruhe findest? womit machst du dich tüchtig müde? – Sagen Sie mir, mein liebes, armes Kind, was thun Sie?“

Sie breitete mit einer Gebärde der Hoffnungslosigkeit beide Hände aus.

„Nichts,“ sagte sie schneidend. „Ich habe nichts zu thun, es ist nichts für mich zu thun da. Ich bin ja eine reiche Frau, lieber Herr Pastor, ich bin König Midas, alles ist von Gold rund um mich her. Niemand braucht meine Mühe, niemand braucht meine Sorge, niemand braucht meine Arbeit, es ist alles

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_647.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)