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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Kaufleute am Poritsch der rasch wachsenden Bevölkerung nicht mehr genügte, mußte unter Wenzel I. die Neustadt bei St. Gallus, unter Ottokar II. die Kleinseite für deutsche Bürger errichtet werden. Ueber das ganze Land verstreut wurden namentlich auf Veranlassung Ottokars II. (1253 bis 1278) käufliche Städte von Deutschen errichtet. Wie die deutschen Bauern des Markwaldes, so waren auch die deutschen Bürger freie Männer, die unabhängig von der tschechischen Gauverfassung unter eigenen Vögten und Richtern und unter königlichem Schutze nach deutschem Rechte lebten. Am Ausgang des 13. Jahrhunderts erlebte die mittelhochdeutsche Litteratur in Böhmen eine beachtenswerte Nachblüte, die auch auf die tschechische Dichtung der Zeit bestimmend einwirkte, es seien in dieser Hinsicht nur die im Lande geborenen Epiker Ulrich von Eschenbach und Heinrich von Freiberg genannt. Im 14. Jahrhundert entstanden deutsche Bibelübersetzungen und hervorragende Prosawerke, mehrten sich deutsche Urkunden und Rechtsdenkmäler, die zuerst jene eigenartige Mischung mittel- und oberdeutscher Lautscheidungen aufweisen, die zu einer Grundlage unserer neuhochdeutschen Schriftsprache geworden ist. Denn auch Karl IV. (1346 bis 1378), zugleich deutscher Kaiser, bot an seinem Hofe neben dem Humanismus der deutschen Litteratur eine Heimstatte dar. In seinem Auftrage schufen deutsche Baumeister, besonders Peter Parler aus Schwäbisch-Gmünd und dessen Schüler, Kirchen, Burgen, Klöster und Brücken, die noch heute unsere Bewunderung erregen. Im Jahr 1348 gründete er die Prager Universität, die als die älteste deutsche Hochschule bezeichnet werden muß, da sie für das ganze deutsche Reich bestimmt war und da von Anfang an die weit überwiegende Mehrzahl ihrer Lehrer und Schüler der deutschen Nationalität angehörte.

Die gezeichneten Verhältnisse wurden völlig geändert durch die Stürme des Hussitismus, einer Bewegung, die aus religiösen Gründen erwachsen war, allmählich eine soziale Bedeutung gewann und in die Spitze des Deutschenhasses auslief. Nach dem Feuertode des Hus im Jahre 1415 ergossen sich die Scharen seiner fanatisierten Anhänger unter Zizkas Führerschaft über das ganze Land, um mit unmenschlicher Grausamkeit die katholisch gebliebenen deutschen Landesteile zu verheeren, Kirchen und Klöster zu plündern, vor allem aber, nachdem die ansehnliche deutsche Bürgerschaft aus Prag vertrieben worden war, im Jahre 1420 die deutschen Städte des Landes mit wenigen Ausnahmen zu erobern und deren Bewohner niederzumetzeln. So gelang es den Hussiten in kürzester Zeit, das Deutschtum im Innern des Landes zu vernichten und größere von Deutschen besiedelte Gebiete namentlich in der östlichen Hälfte des Landes, für immer zu slavisieren.

Die politische Bedeutung der Deutschen in Böhmen lag nun auf Jahrhunderte danieder. Unter schwachen Königen aus verschiedenen, rasch wechselnden Dynastien, unter blutigen Bürgerkriegen wuchs die Macht des Adels, der Stände, die den Bauern allmählich zum Leibeigenen hinabdrückten, den Bürger in seinen Freiheiten verkürzte und dem Deutschtum auch jeden Schein von Recht zu nehmen trachtete. Die alten Freiheitsbriefe wurden gefälscht. In mehreren Erlassen wurden die Deutschen Böhmens als Ausländer bezeichnet, es wurde ihnen verwehrt, ein öffentliches Amt zu bekleiden, im Lande Grundbesitz zu erwerben, vor Gericht in ihrer Sprache zu klagen. Auch die seit dem Jahre 1526 regierenden Könige aus dem Hause der Habsburger konnten der leidenschaftlichen nationalen Partei nicht wehren. Noch im Jahre 1615 erließ Mathias das vielberufene Sprachengesetz des Prager Landtags, das alle früheren Bestimmungen in ihrer auf die Ausrottung des Deutschtums hinzielenden Strenge übertraf. Doch trotz aller Bedrückungen begann das Deutschtum Böhmens im 16. Jahrhundert wieder zu erstarken. Der neu erschlossene Bergwerksbetrieb im Erzgebirge, die immer bedeutender werdende Leinen- und Tucherzeugung im östlichen Nordböhmen mehrte die Dichtigkeit und den Reichtum der deutschen Bevölkerung. Nachhaltig förderte das Deutschtum die in Böhmen sich rasch verbreitende neue Lehre Luthers. Auch die alten tschechischen Utraquisten wurden nun Lutheraner, bezogen ihre Bücher, Priester und Lehrer aus Deutschland und sandten ihre Söhne an die protestantischen Universitäten des Reiches. Unter dem Schutze der Reformation hob sich das Schulwesen und die Litteratur der Deutschen. Michael Weiße und Nikolaus Hermann dichteten volkstümliche geistliche Lieder, Johann Mathesius verfaßte zahlreiche, auch kulturgeschichtlich bemerkenswerte Predigten, der Egerläuder Clemens Stephani schuf wirkungsvolle Dramen.

Auch die deutsche Sprachgrenze rückte im 16. und namentlich im 17. Jahrhundert wieder vor. Man kann diese Bewegung an der Hand der Stadtbücher verfolgen, die allmählich wieder die deutsche Sprache annehmen. Nach den ungeheuren Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, nach den erbarmungslosen Landesverweisungen von vielen Tausenden protestantischen Familien waren weite Strecken Böhmens geradezu entvölkert, und es mußten nun wieder deutsche Kolonisten (zumeist aus Bayern) herbeigerufen werden. So wurden große ehemals tschechische Gebiete, namentlich im westlichen Böhmen bis zum Jahr 1700 allmählich wieder dem Deutschtum gewonnen. Noch stärker war in jener Zeit die Wendung zu gunsten des Deutschtums in dem ganzen öffentlichen und kulturellen Leben Böhmens. Nach der Schlacht am Weißen Berge 1620, war die Macht der Stände gebrochen. Böhmen wurde nun eine Provinz Oesterreichs; von einem rein tschechischen Staate konnte nicht mehr die Rede sein. Die „verneuerte“ Landesordnung Ferdinands II. vom Jahre 1627 erkannte nun auch die Gleichberechtigung der deutschen Sprache an, die schon wegen des Verkehrs mit den kaiserlichen Beamten zu Wien unentbehrlich wurde. Mit der zunehmenden Centralisierung im 18. Jahrhundert wuchs auch die Bedeutung des Deutschtums. Während Kaiser Josef II. die deutsche Sprache in allen Schulen Böhmens einführte, vertauschte im Jahre 1784 auch die Prager Universität die lateinische mit der deutschen Vortragssprache.

Nach langem Schlafe begann in der josefinischen Periode die deutsche Litteratur in Böhmen zu erwachen, von Wien her und in höherem Grade vom neuen Aufschwung des geistigen Lebens in Deutschland befruchtet. Die litterarischen Bewegungen Deutschlands wurden vielfach durch reichsdeutsche Gelehrte an der Prager Universität vermittelt, die sich (wie z. B. A. G. Meißner) an der ästhetischen Kritik und am dichterischen Schaffen fruchtbar beteiligten. Aus diesen Bestrebungen erwuchsen mehrere Zeitschriften, die auch außerhalb Böhmens Mitarbeiter und Leser gewannen, und einzelne bedeutendere Talente, wie der Epiker Egon Eberl und die Erzähler Alfred Meißner und Adalbert Stifter. Weit hervorragender freilich als auf dem Boden der Dichtkunst wurden die Leistungen der ernster gestimmten, arbeitstüchtigen Deutsch-Böhmen auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Industrie, sowie in dem wiederholt maßgebenden Anteil an der politischen Führung des österreichischen Kaiserstaates.

Indessen hatte am Ausgang des 18. Jahrhunderts die tschechische Sprache den tiefsten Grad ihrer politischen und gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, ihres grammatischen und stilistischen Verfalls erreicht. Fast nur vom Bauernstande gesprochen – denn der Adel und die Bürgerschaft bedienten sich nahezu ausschließlich der deutschen Sprache – konnte sie den Anforderungen der zeitgenössischen Kultur und Bildung nicht mehr entsprechen. Selbst begeisterte böhmische Patrioten verzweifelten an ihrem Wiedererstehen und der böhmische Geschichtschreiber Pelzel sprach 1789 die Ansicht aus, daß Böhmen vollständig deutsch werden dürfte, wie es damals bereits mit Obersachsen, Schlesien und anderen ehemals überwiegend slavischen Ländern der Fall war.

Ueberraschend schnell trat ein Umschwung der Verhältnisse ein. Josefs II. Wirken, so centralisierend es angelegt sein mochte, gab den ersten Anstoß hierzu. Die Verbreitung der Schulbildung, die Befreiung des Bauernstandes brachte neues Leben in jene Schichten des Volkes, aus der die tschechische Sprache wiedergeboren werden sollte, in die bis dahin von der modernen Kultur abgeschnittene Landbevölkerung. Die demokratischen Ideen der französischen Revolution wirkte mittelbar bis nach Böhmen; die Befreiungskriege gegen Napoleon weckten auch bei den österreichischen Slaven das Nationalbewußtsein. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fällt das neue Aufkommen der tschechisch-nationalen Bewegung. Sprachforscher wie Dobrowsky und Jungmann begannen die tschechische Sprache wissenschaftlich zu ergründen, in Formenbau, Wortschatz und Stil durch Verwendung älterer Formen und durch Anleihe bei verwandten Sprachen auszubilden. Gelehrte und Aristokraten vereinigten sich zur Gründung von Gesellschaften und Unternehmungen, die der Heimatkunde dienen sollten, so entstand die böhmische Museumsgesellschaft 1818. Die Deutschen des Landes förderten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_642.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)