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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind.
Nach einem Gemälde von J. Verdier.


an der Mittagstafel, sondern er war ihr auch mehrmals auf Spaziergängen begegnet. Beinahe mußte er über sich selbst lachen, nun er daran zurückdachte. Wirklich, nein, er war doch immer noch derselbe Tölpel, der er von Knabenzeiten her Mädchen gegenüber stets gewesen war! Hätte nicht jeder andere junge Mann von nur einigermaßen schneidigen Umgangsformen es fertig gebracht, irgend eine Gelegenheit vom Zaun zu brechen, um sich den Damen vorzustellen? Nur er natürlich, der schüchterne, schwerfällige Mensch, der er nun einmal war, er hatte nichts dergleichen gethan. Nicht einmal sie anzusehen hatte er gewagt, wenn ihn ihr Kleid fast gestreift hatte, während er ihr dann nachher wieder nachsah, so lange noch ein Zipfel von dem hellen Gewand zu erblicken war. Er fühlte sich sogar überzeugt, rot geworden zu sein. Lächerlich – einfach lä–cher–lich!

Und doch, dieses befangene Wesen war stärker als er, und wie er es schließlich anstellen wollte, sich ihr zu nähern, ihr von seiner Liebe zu sprechen und um ihre Hand anzuhalten – lauter Dinge, die jedenfalls und notwendig geschehen mußten – darüber war er noch vollständig im unklaren.

Geschehen aber mußte und sollte es, denn wenn es je auf der Welt ein Mädchen gab, welches ausdrücklich für ihn geschaffen war, so konnte es nur dieses sein; gleich von Anfang an war er darüber nicht in Zweifel gewesen. Es war wirklich einmal jene Liebe auf den ersten Blick, von der so viel gefabelt wurde.

Nicht im entferntesten war es ihm bis jetzt in den Sinn gekommen, sich zu fragen, ob das schöne Mädchen reich oder arm sei. Er selbst befand sich in so günstigen Vermögensverhältnissen, daß diejenigen seiner künftigen Frau ihn gleichgültig lassen dursten.

Nach Kleidung und Auftreten konnten die Damen allerdings nur einem recht wohlhabenden Hause angehören, doch hatte er sich mit solchen Erwägungen bis jetzt nicht abgegeben.

Nein, er saß nur und träumte von zwei blauen Augen voll Seele, ganz wie ein unpraktischer Mensch, der er auch war, während er den Shakespeare verkehrt in der Hand hielt.

Wie würde es ihn beglückt haben, wenn er gewußt hätte, daß unterdessen die Besitzerin der blauen Augen – sie waren wirklich sehr blau – auf einem anderen Wege, als auf dem er gekommen war, ebenfalls dem Schutzpavillon mit eiligen Schritten zustrebte, ja, wie groß würde seine Freude erst gewesen sein, hätte er geahnt, daß sie nur deshalb sich so weit hinausgewagt hatte, weil sie auf dem ganzen Spaziergange, ehe es zu regnen begann, an ihn, gerade an ihn gedacht und darüber versäumt hatte, nach Himmel und Wolken zu sehen.

Jetzt freilich waren ihre Gedanken nur bei ihrem hübschen Sommerkleide, welches ihr zierlicher Schirm nur sehr mangelhaft vor den fallenden Tropfen schützte, und bei ihren neuen, braunen Lederschuhen, welche die Nässe vollständig verdarb. Man kann nicht gleichzeitig an alles denken, und Kleider und Schuhe, besonders wenn sie noch nicht einmal bezahlt sind, bleiben immer Dinge von Wichtigkeit, selbst wenn man verliebt ist. Denn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 637. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_637.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)