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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Ich sollte schönstens grüßen und ihm erzählen, wie ich Sie gefunden hätte. Um Sie, Mamachen, hatte er große Sorge. Wie wird er sich nun freuen, wenn ich ihm berichte, daß es Ihnen so famos geht.“

Hanna saß still daneben, wieder eifrig mit ihrer Stickerei beschäftigt. Das Herz schlug ihr schwer, es hätte ihr wohl die Worte erdrückt, wenn sie selbst weiter nach dem Freunde gefragt hätte. So schwieg sie. Seit jener kurzen stummen Zwiesprache in der Kirche, seit sie sich mit jenem einzigen Blick – zu spät – alles gesagt hatten, was voreinander zu verbergen ihnen monatelang vorher so gut gelungen war, lag der tapfere Mut ihrer Selbstbeherrschung in Scherben. Im Alleinbesitz ihres wehmütigen Geheimnisses war sie stolz und sicher gewesen. Die Entdeckung hatte sie furchtsam und scheu gemacht. So lange die heißen Tropfen Herzblut im tiefen Dunkel aus dem Altar der Kindesliebe niederfielen, war ihr, so dünkte ihn jetzt, das Lächeln leicht geworden. Von jener Stunde an aber bangte ihr auch vor der Mutter, der ein unbedachter Atemzug alles verraten konnte. Und dann war Weh und Pein, Opfermut und Entsagung vergeblich gewesen. – Wußte er das? Blieb er fern, um ihr zu helfen? Fürchtete auch er sich vor dem Wiedersehen? War er nicht stärker als sie? – Und weiter: Sagte auch er, gleich ihr, die in der einsamen Not ihrer armen Seele mit dieser Liebe rang wie mit einer Krankheit, getrennt dürfen wir schweigend Leid umeinander tragen? Vereint läßt uns jeder Blick zu Schuldigen werden? – Jawohl, schuldig! Von dem Augenblick jenes stummen Geständnisses an fühlte sie sich Sünderin. Denn mit der Sehnsucht nach dem Verlornen brach sie ja dem Ehemann die Treue. Dem Mann, der sie aus Liebe geheiratet hatte. Dem Mann, dem sie die Rettung der Mutter verdankte. Dem Mann, der bereit war, ihr die Hände unter die Füße zu legen! Wie eine schwüle, erstickende Welle lief ihr ein Angstgefühl über das Herz. Brav bleiben! Ehrlich weiter Posten stehen! Nicht müde werden! Und nicht feige!

„Schrieben Sie nicht, Güntherchen, Sie hätten auf Ihrer Heimreise die alten Rettenbachers besucht?“ fragte sie schnell mitten in seinen Bericht von der thüringer Ferienfahrt hinein.

„Habe ich. Gerade wollt’ ich davon reden. Ein gelungener, alter Knopf, der Vater. Würdevoller Herr, thut sich ein bißchen. Kantor, Schullehrer, Honoratiore. Und kaum hat er ein Gläschen von seinem selbstgebrannten blassen Johannisbeerwein hinter der Binde, so kommt der urfidelste, gemütlichste Kumpan heraus. Hat keine Ader von seinem Jungen. Oder vielmehr umgekehrt, nicht zu denken, daß sie Vater und Sohn sind. Dagegen die Mutter! Sie sollten der ihr Gesicht sehen, wenn sie von ihrem Arnold spricht. Die weiß, was er für’n Kerl ist, wenn sie auch nicht immer ganz richtiges Deutsch redet. Die schönen, melancholischen Augen, die hat er von ihr. Und auch die weiche Stimme. Es hat mich ganz eigentümlich berührt, wenn ich sie sprechen hörte, obwohl ich nicht zu sagen wüßte, weshalb. Ich glaube, das Heimweh nach ihrem großen Jungen steht ihr bis an den Hals.

„Was machen denn die übrigen Kinder?“

„Alle fidel. Alle gesund. Jemine, ist das noch ein Haus voll! Die Aelteste ist ja zwar verheiratet, an so einen Kleinbauern, hat einen dicken Jungen von ein paar Wochen. Aber dann sind da noch zwei erwachsene, unversorgte Mädel, abgerechnet die beiden noch kleinern. Dann noch drei Jungen, alle drei noch nicht zu rechnen, außer als hungrige Mäuler. Gott, was geht in so einen Kindermagen hinein, ehe er satt ist! Drei oder vier, wenn mir recht ist, sind zwischendurch weggestorben, sonst wär’ der Tisch noch länger. Arbeiten thun sie ja alle, jeder nach seinen Kräften, die arme Mutter, glaub’ ich, über ihre Kräfte, aber schaffen thun doch bloß die Großen etwas. Wissen Sie, nach dem, was ich so sah und hörte und wie die Mutter andeutete, geht alles, was unser armer Arnold nicht blutnotwendig zum Leben braucht, in diesen Schlund. Ohne die Notgroschen von dem sähe die Sache manchmal klaterig aus. Und wie lange wird das noch so weiter gehen! Zu was Eignem kommt der nie auf diese Weise. Trostlose Geschichte. Ich sagte ja was zu ihm, aber, wie Sie ihn so kennen, er nahm es krumm und schnauzte mich regelrecht an. Das gehörte sich nun einmal nicht anders. Wie man denn seine Liebe beweisen sollte als durch die That und wer denn das erste Anrecht auf seinen Erwerb hätte wenn nicht die Eltern, die ihn großgezogen hätten – und so weiter. Recht hat er ja, aber gemütlich ist die Sache nicht.“

„Gewiß hat er recht,“ sagte Hanna mit leicht zitternder Stimme. Sie schämte sich dieser Rührung nicht. Sie sah, daß ihrer Mutter ebenso zu Mute war. „Lassen Sie ihn nur bei seiner Art. Wenn man ihm helfen will, muß man es heimlich thun, um ihn nicht zu verwunden. Vielleicht gelingt es mir, durch meinen Mann, für die heranwachsenden Jungen einmal etwas zu thun. Wie sieht denn der Hans aus? Das ist sein Liebling.“

„Famoser Kerl. Enakssohn. Sieben Jahre alt, aber groß für zehn. Ganzer Kopf voll blonder Locken, Augen unwahrscheinlich himmelblau, strahlend, Stimme wie ’ne Kirchenglocke – à propos Kirchenglocke! Hannichen, gnädige Frau! Wie ist das mit unserer Singerei? Mitte August fangen wir bekanntlich wieder an. Sie kommen doch natürlich?“

„Das weiß ich noch nicht, liebes Güntherchen,“ antwortete Hanna verlegen. „Bis dahin sind ja noch reichlich zwei Wochen. Lassen Sie uns darüber ein anders Mal reden!“

„Zu Befehl. Aber – – Sie werden uns doch nicht etwa untreu werden?“

„Das ist schon möglich,“ sagte Ludwig Thomas, der unbemerkt über den dicken Teppich des Wohnzimmers herangekommen war und seit einer Minute hinter ihnen an der Thür lehnte.

Hanna zuckte unwillkürlich zusammen und wandte sich, rot übergossen, zu ihrem Mann herum. „Da stehst du und hörst zu in aller Stille?“

„Scheint dir keine sehr angenehme Ueberraschung zu sein,“ anwortete er mit einem eigenen, unherzlichen Lächeln. Er trat jetzt an den Tisch heran, Günther, der verwirrt aufgesprungen war, mit frostiger Höflichkeit begrüßend. „Die Herrschaften waren eben so vertieft – ich hätte mich wohl mit einem kleinen Böllerschuß anmelden sollen, um zu warnen.“

Hanna sah ihn mit stummem Kopfschütteln an. Er machte eine Bewegung, als wollte er etwas darauf erwidern, drückte aber die Lippen zusammen.

„Wir wollten dich nur nicht stören,“ sagte nun Frau Wasenius schnell, freundlich begütigend. „Sonst hätten wir dich gleich benachrichtigt, als Günther kam.“

„Bitte, bitte, zu liebenswürdig,“ erwiderte er kalt. „Der Besuch des Herrn galt ja gar nicht mir.“

„Im Gegenteil, Herr Thomas,“ verteidigte sich Günther, so ungeschickt wie gewöhnlich. Mit seinem verlegenen Gesicht nahm er sich aus wie ein auf Gott weiß was für einer That ertappter Sünder.

„Gegenteil ist gut,“ sagte Ludwig, den einen Mundwinkel verziehend. „Sehen Sie ’mal an. Sie hatten also das dringende Bedürfnis nach einem ganz besonderen Kosestündchen mit mir? Das find’ ich aber rührend. Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?“

„Genug, genug,“ bat Hanna, die mit wachsendem Unbehagen der Art zusah, mit der ihr Mann einen Gast bewillkommnete, der ihr alter Freund war. „Sehen Sie nicht so begossen aus, Güntherchen, mein Mann neckt gern, das müssen Sie erst noch gewohnt werden. Behalten Sie Ihren Platz. Und du, Ludwig, komm hierher zu mir. Soll ich den Kaffee bestellen?“

„Keine Spur. Wenigstens für mich nicht. Und für dich auch nicht. Hast du vergessen, daß wir in die Ausstellung wollten? Es ist Zeit, mein Kind, ich gestatte mir, dich dazu abzuholen. Also geschwind, zieh’ dich um!“

„Aufschieben könnten wir’s wohl nicht?“ fragte sie zaghaft bittend. „Wir sitzen hier gerade so gemütlich. Wenn wir morgen gingen?“

„Morgen kann ich nicht. Und was ich gesagt habe, habe ich gesagt, mein Engel. Das weißt du doch nun eigentlich schon, was? Also hoppla, wenn ich bitten darf! In einer Viertelstunde – nein, jetzt in zehn Minuten ist fertig angespannt. Sehr schön kannst du dich also schon nicht mehr machen. Sie entschuldigen, Herr – Musikdirektor. Wir hoffen, ein anderes Mal das Vergnügen zu haben. Ja, was ich noch sagen wollte, um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen auf das Wiedererscheinen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_630.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)