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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

auch geneigt sein, unser Verfahren gegen Balthasar Noß gut zu heißen und die Wandlung, die sich jetzt hier in Glaustädt vollzogen hat, nachträglich anzuerkennen. Er hielt einen Augenblick inne.

„Gott’s Donner!“ rief der Buchdrucker Jansen. „Ihr sprecht zuversichtlich!“

„Also wie einer, der seine Zusage halten wird!“ meinte der Ratsbaumeister.

„Erklärt Euch genauer!“ scholl es von allen Sesseln.

Ueber das Antlitz des Zunftobermeisters glitt ein verschlagenes Lächeln. „So, ihr gestattet,“ fuhr er mit ruhiger Siegesgewißheit fort, „möcht’ ich die Einzelheiten des Planes, den ich mir ausgedacht, vorläufig geheim halten. Ich bitt’ euch, vergönnt mir das! Um euch für die Brauchbarkeit meines Vorhabens ausreichende Bürgschaft zu geben, will ich hier gleich den Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, dem ihr doch volles Vertrauen schenkt, kurz von der Sache in Kenntnis setzen. Wenn der mir beistimmt und meinen Einfall für gut erklärt, dann könnt ihr mir wohl ohne Besorgnis Vollmacht erteilen. Morgen schon werd’ ich euch dann das gewichtige Aktenstück zeigen können. Haltet ihr’s dann, wie ich bestimmt erwarte, für zweckmäßig, so beauftragen wir das neue Stadtoberhaupt, nach Lich zu reisen, um dem Herrn Landgrafen unsere Wünsche und Hoffnungen mit dem in Rede stehenden Aktenstück gleichzeitig vorzulegen.

„Gut, gut!“ rief eines der alten Ratsmitglieder. „Herr Woldemar Eimbeck mag sich mit Euch besprechen und dann vermelden, was er von Eurem Plan hält.

„In so ernstschwieriger Lage muß man alles versuchen,“ meinte der Buchdrucker Jansen beifällig.

Karl Wedekind also begab sich mit Woldemar Eimbeck ins Nebengemach. Dort setzte er dem eifrig lauschenden Ratsbaumeister kurz auseinander, was er im Schilde führte.

„Ausgezeichnet!“ sagte der Ratsbaumeister. „Aber weshalb thut Ihr mit Eurem Plan so geheimnisvoll? Ihr könntet das doch offen heraussagen.“

„Weil ich fürchte, die Ratsversammlung möchte mir am Ende die Ausführung aus der Hand winden. Und das will ich um keinen Preis.

„Also, es bleibt dabei ich verrate nichts, und Ihr selber geht noch heute ans Werk. Je früher, je besser. Wir haben bei dem gestrengen Herrn Landgrafen keine Zeit zu verlieren.“

Nach fünf Minuten traten die beiden Männer zurück in den Sitzungsraum.

„Liebwerte Freunde und Mitbürger!“ sprach Woldemar Eimbeck. „Auf meine Verantwortung, ihr könnt es getrost mit dem Vorhaben des Herrn Zunftobermeisters versuchen. Nach allem, was ich von der Persönlichkeit unseres Landgrafen weiß, bedünkt mich die Sache im höchsten Grade aussichtsvoll. Ich stelle daher den Antrag, daß man dem Zunftobermeister Karl Wedekind unbeschränkte Vollmacht erteile, seinen mir kundgegebenen Plan zu verwirklichen. Zu diesem Behufe müßte das neuernannte Stadtoberhaupt ihn jetzt gleich unter vier Augen zu dem autorisieren was Herr Karl Wedekind von ihm verlangen wird. Seid ihr mit diesem Vorschlag einverstanden?“

Das Ansehen Eimbecks unter den neuen Ratsherren war so groß, daß man ihm augenblicks zustimmte. Ueber die Züge Karl Wedekinds flammte ein wildes Aufleuchten. Der urwüchsige, starkfühlende Mensch dachte in dieser Minute wohl ungleich lebhafter an das eigene Weh als an das Schicksal von Glaustädt.

So schloß die Versammlung. Karl Wedekind verfügte sich mit dem Notar Weigel ins Bürgermeisterzimmer, teilte ihm alles Notwendige mit und erhielt von dem ernst dreinschauenden Herrn die gewünschte Ermächtigung.

„Haltet nur Maß!“ flüsterte Weigel, als sich der Zunftobermeister mit der feierlich untersiegelten Autorisation auf den Weg machte.

„Keine Sorge, vielteurer Herr! Ich verfahre nur ganz ordnungsgemäß! Auf Wiedersehen morgen um acht Uhr früh!“ Und somit ging er ans Werk.

28.

Doktor Ambrosius hatte dieser Versammlung im Rathaus nicht angewohnt. Von sechs Mitverschworenen begleitet, war er dem Planwagen gefolgt, der die erschöpfte Hildegard nach ihrem einst so glücklichen Heim führte.

Durch Woldemar Eimbeck war Doktor Ambrosius schon längst benachrichtigt worden, daß sich die Krankheit Franz Engelbert Leutholds nach wie vor traurig dahinschleppte. Die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner hatte zwar alles aufgeboten an treuer, hingebender Pflege, auch die Anordnungen des alten Stadtmedikus, der seit der Flucht des Doktor Ambrosius den Patienten behandelte, redlich erfüllt, aber das Fieber mit seinen immer wiederkehrenden Ausbrüchen von stürmischer Unrast und schreckhaften Delirien wollte und wollte nicht nachlassen. Der Stadtmedikus hatte noch gestern abend erklärt, falls nicht binnen kürzester Frist ein Umschwung zur Besserung eintrete, solle sich Gertrud Hegreiner auf das Schlimmste gefaßt halten. Aerztliche Kunst sei hier vollständig machtlos.

Seit jener herzerschütternden Sinnestäuschung, die ihm das Kleppen des Armesünderglöckchens in das feierliche Gebrause der Hochzeitsglocken verwandelt hatte, lag Franz Engelbert Leuthold still und bewegungslos in den Kissen. Gertrud Hegreiner hatte zwei- oder dreimal durch den Thürspalt der Nebenkammer gelugt, ohne eine Veränderung wahrzunehmen. Das Herz stockte ihr fast in trübseliger Vorahnung. Der mehrstündige Schlaf, der seine Fittiche über den Kranken spreitete, schien ihr der unheimliche Vorläufer des Todesschlafes. Zuletzt hatte sich Gertrud mit dem Gedanken, daß nun alles zu Ende sei, weinend zurecht gefunden. Es war ja das beste so für diesen ewig bejammernswürdigen Mann, dessen alles und eins da draußen vor der herzlos gaffenden Menschenmenge elend geschlachtet wurde.

Dann kamen die Wellenschläge der großen Ereignisse langsam herangerollt. Erst als dunkle Gerüchte. Dann immer klarer und deutlicher. Und zuletzt in Gestalt des geretteten Opfers und ihres Befreiers. Jetzt erst verlor Gertrud Hegreiner ihre Fassung. Sie fand nicht Worte, die Heimkehrende zu begrüßen. Nur stumm, unter rollenden Thränen, zog sie die Hand des Mädchens an ihre Lippen und sank zuletzt, übermannt von ihrer Gemütsbewegung, leichenblaß auf die Ruhebank.

Doktor Ambrosius redete seiner Braut zu, sich sogleich zur Ruhe zu legen. Hildegard aber weigerte sich, verlangte vielmehr an Stelle ihres zerknitterten und verstaubten Kleides ein frisches Gewand. Bevor sie sich niederlegte, wollte sie ihren todkranken Vater sehen. „Gut!“ sagte der junge Arzt. „Ich möchte dich zwar vor jeder Aufregung hüten, aber du hättest ja doch keine Ruhe. Nur erlaubst du mir, daß ich zuerst gehe. Kleide dich unterdes um!

„Weshalb willst du nicht auf mich warten?“ frug Hildegard mit einem Blick auf die verstört dreinschauende Gertrud. „Geh’ in mein Wohnstübchen! Ich komme in fünf Minuten.“

Doktor Ambrosius strich ihr beschwichtigend über die Wange.

„Wir zwei auf einmal – das möchte ihm leicht zu viel werden. Er schläft nun bereits mehrere Stunden lang. Nach diesem tiefen Schlummer könnte er das Bewußtsein wieder erlangt haben. Stehst du dann in leibhaftiger Gegenwart vor ihm, so weiß ich nicht, ob er den Anprall aushält.

Was Doktor Ambrosius da flüsterte, war nur halb seine Meinung. In der That konnte der freudige Schreck, wenn er so ganz ohne Vorbereitung hereinbrach, den Kranken zu Grunde richten. Mehr noch aber als diese Wendung schwebte dem Arzt die Möglichkeit eines Unheils für seine Hildegard vor. Wenn Franz Engelbert Leuthold, wie das die Wirtschafterin offenbar fürchtete, schon die Augen für ewig geschlossen hatte …?

Hildegard fügte sich. Während sie sich hochklopfenden Herzens auf ihre Bettstatt setzte, begab sich Doktor Ambrosius, von Gertrud begleitet, hinüber ins Krankenzimmer. Franz Engelbert Leuthold atmete ruhig und gleichmäßig. Die abgemagerten Hände lagen ruhig auf der Wolldecke. Der junge Arzt tastete ihm vorsichtig nach dem Puls. Höchstens fünfundsiebzig bis achtzig Schläge. Die Haut fühlte sich etwas feucht an.

Als Doktor Ambrosius wieder zurücktrat, fing der Patient an, sich zu regen. Die eingesunkenen Lider hoben sich langsam. Trotz der wohlthuenden Dämmerung, die in dem Krankenraum herrschte, sah Herr Leuthold wie geblendet umher. Beim Anblick des schwarzgekleideten Mannes, der da mit Gertrud abseits stand, schrie er laut auf. „Doktor Ambrosius! Was wollt Ihr? Ich seh’ es Euch an … Sie ist tot! Sie ist tot!“

Es war herzzerreißend, wie sich das bleiche, hohle Gesicht bei diesen Klagelauten verzerrte. Doktor Ambrosius aber fühlte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_610.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)