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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Langsam erhob sie sich von ihrem Platz. Zum letztenmal sammelte sie die Stimmen ein. Zum letztenmal. Warum nicht gar! Wie nervös sie geworden war. Sie kam ja wieder. Sie ging ja nicht weg. Nur von einem Haus ins andere. Nach den Ferien, die jetzt begannen und die so lange dauerten wie die der Schulen, kam sie wieder. Natürlich. Mit dem Versuch, sich selbst aus ihrer schwermütigen Stimmung aufzurütteln, sagte sie sich, wie man einem betrübten Kind etwas verspricht, damit es wieder lacht; dann kann man auch gefahren kommen, wenn man zu faul zum Laufen ist.

Sie ging dann mit Günther und Rettenbacher ins Pfarrhaus hinüber, um die Noten im Schrank zu verwahren, wie sie immer gethan hatten, wenn sie sie nicht zu irgend einem Zweck mit nach Hause nahmen. Arnold schloß sich von dieser gewohnten Hantierung auch jetzt nicht aus. Er trug seine Hälfte Noten und den „dicken Schöberlein“, aus dem Günther den Palestrina dirigiert hatte. Es wäre aussagend gewesen, wenn er sich auch hiervon zurückgezogen hätte, seit kurzem mußte er sowieso am Samstagabend immer in eine Lehrerversammlung und kam dann erst spät nach dem Abendessen heim.

Sie fanden dumpfe, schlechte Luft in dem Saal, auf dessen Fenster die Sonne geschienen hatte, es war Unterricht gewesen und noch der ganze Menschendunst eingefangen beisammen. Nachdem sie geschwind alles aufgemacht hatten, räumten sie ihre Noten weg. Sie waren noch am Stimmenordnen, da wurde die Thür aufgerissen und Thomas erschien.

„Donnerwetter,“ sagte er statt aller Begrüßung, „'ne nette Sommerluft ist das ja hier drinnen. Danke ergebenst.“

„Wo kommst denn du her?“ fragte Hanna, ganz verwirrt auf ihn zugehend. „Guten Abend übrigens.“

„Ich wollte dich abholen,“ antwortete er, erst jetzt den Hut abnehmend und die beiden Herren flüchtig begrüßend. „Habe aber den Anschluß versäumt. Die Geschichte war schon aus und der Fritze da drüben, der Kirchendiener, wies mich hierher.“

„Das war ja ein freundlicher Gedanke von dir,“ sagte Hanna, immer noch sehr befangen.

„Was machst du denn nun aber noch in diesem stickigen Lokale“, fuhr er fort. Ein unruhiger, nicht besonders liebenswürdiger Blick streifte dabei Günther und Rettenbacher.

„O, wir ordnen nur, wie gewöhnlich, unsere Noten“, erklärte der Musiker. „Aber Fräulein Hanna steht natürlich ganz zu Ihrer Verfügung.“

„So, sehen Sie ’mal. Nett von Ihnen,“ sagte Thomas, kurz auflachend. „Alles mögliche, daß Sie weiter keine Ansprüche machen, kann ich ja kaum annehmen.“ Hanna griff schnell nach Handschuhen und Schirm. Beklommen und unruhig sah sie ihren Verlobten an. Worüber war er denn so ganz ersichtlich gereizt? Und warum kam er hierher, was er noch keinmal gethan hatte. „Wollen wir gehen?“ sagte sie. Er nickte, öffnete die Thür und ließ sie voraus. „'n Abend,“ murmelte er über die Achsel zurück, ohne die beiden, die ihm erstaunt nachblickten, recht anzusehen.

„Was fehlt dir?“ fragte Hanna, als sie draußen waren. Er blieb auf der kleinen Treppe stehen und betrachtete sie mit unstet funkelnden Augen. Dann, ganz unvermittelt, begann er zu lachen, ergriff sie an beiden Händen und zog sie zu sich.

„Wie reizend siehst du aus, wenn du erschrocken bist!“ Sie machte sich aber los. „Was dir fehlt, sollst du mir sagen,“ wiederholte sie kühl.

„Nichts fehlt mir – wenigstens in diesem Augenblick erhol’ ich mich. Aber ich war allerdings etwas unwohl, vor Ungeduld und – na, und vor Sehnsucht. Du bliebst mir zu lange. Ich habe nämlich da in der Kirche gesessen und euer Dideldum angehört. Habe dich stehen sehen und aus der Ferne mit den Augen verschlungen, habe diesen – Günther beneidet, der dir so nahe war, und den du so andächtig angucktest. Wollte dich abfangen, überraschen. Aber natürlich wußt’ ich nicht Bescheid in dem edlen Gebäude und starrte mir die Augen aus dem Kopf nach dir. Endlich kriegt’ ich den Kirchendiener am Flügel, rabiat, wie ich schon war. Ja Kuchen! Die Sänger sind hinten raus. Weg. Bald hätt’ ich geflucht. Aber als ich nach dir fragte, da meinte der Onkel, du würdest wohl noch hier drüben sein. Mit Herrn Günther. So stürz’ ich denn her. Fuchs-teufelswild. Finde dich auch, aber wenigstens nicht allein mit dem verdrehten Musikanten. Mädel – er zog sie heftig an sich – siehst du denn nicht, hörst du denn nicht, merkst du denn nicht – Donner und Doria – daß ich eifersüchtig bin auf jeden Menschen, den du nur ansiehst!“

„Eifersüchtig?“ fragte Hanna sehr erschrocken. „Rasend eifersüchtig,“ murmelte er, sie leidenschaftlich küssend. „Bedenk’ das, vergiß das nie! Milch hab’ ich nicht in den Adern!“

13.

Frau Wasenius war die erste in der Kirche. Der ihr zugesagte Wärter war in seiner ganzen Riesengröße schon zeitig in der Linkstraße erschienen, um ihr, bei aller Gemütsruhe des Transportes, nachher noch die Möglichkeit der Erholung vor Beginn der Feier zu schaffen. Er hatte sie sorglich in Pastor Erdmanns bequemstem Sessel untergebracht, rückte nun das breite, weiche Fußkissen, das der Pfarrer gleichfalls herübergeschickt hatte, zurecht und breitete die Decke über die Kniee der Kranken.

„Sitzen Sie so gut, gnädige Frau?“

„Herrlich. Ich danke Ihnen. Wie schön Sie das alles machen. So sanft und sicher. Ganz vergeblich hab’ ich mich vor dieser Expedition gefürchtet.“

„Na, gnädige Frau sind ja auch man ein Häschen, da ist nich viel Kunst bei nötig. Wir im Krankenhaus sind das anders gewöhnt. Da kommt verschiedenes Kaliber vor.“ Er trat jetzt zurück und setzte sich in ihrer Nähe auf die vorderste Bank.

Ein Weilchen blieb Frau Wasenius nun noch still, mit angelehntem Kopf, mit geschlossnen Augen sitzen. Die lautlose Ruhe, die Kühle des weiten Raumes thaten ihr wohl, besänftigten die schweren, schmerzenden Schläge des kranken Herzens.

Dann aber begann sacht um sie her das Geräusch von Schritten auf den Steinfliesen, das Rascheln und Huscheln von Kleidern, das Murmeln von Stimmen. Hinter ihr, in den Bänken, schoben sich die Leute hin und her, das gewöhnliche Publikum, das den Trauungen beizuwohnen pflegt. Für die sehr kleine Hochzeitsgesellschaft standen nur einige Stühle neben ihrem großen Sessel vor dem Altar. Oben auf den Emporen wurde es nun auch lebendig, dort hallten die Schritte lauter. Eine ganze Gruppe mußte sich jetzt gleichzeitig eingefunden haben: die Sänger, die Aufstellung neben der Orgel nahmen. Dann wurde es wieder für ein Weilchen still.

Frau Wasenius hatte die Augen nicht geöffnet. Erst als Wagenrollen näher kam, erhob sie den Kopf und sah sich um.

Vereinzelte neugierige Gesichter, die sich weiter vorgedrängt hatten, starrten sie an. Von den andern hinter ihr in den Bänken wurde sie nichts gewahr. Die Stühle neben ihr waren noch leer. Der Kirchendiener trat aber jetzt heran und rückte sie noch einmal zurecht, empfing dann mit ergebenstem Bückling die majestätische Erscheinung der Frau Bankdirektor Eggebrecht, geborene Thomas, die am Arm ihres ebensogroßen, aber nur halb so breiten Gatten dahergerauscht kam, begleitet von zwei sehr jugendlichen Töchtern und einem erst halbausgebackenen, schlenkrigen Gymnasiasten.

Die kleine gelähmte Frau, die als Brautmutter so wenig Imponierendes an sich hatte, wurde mit der gebührenden Höflichkeit, aber kalt begrüßt. Um so liebenswürdiger bemühte sich der alte Sanitätsrat, der als langjähriger Freund der Familie Verwandtenrechte genoß, Frau Wasenius seine Freude über ihre Anwesenheit auszudrücken.

Nach kürzester Frist hatte man sich auf den verschiedenen Plätzen geordnet.

Nun setzte die Orgel ein. Frau Wasenius fuhr zusammen und begann nervös zu zittern.

Hanna und Ludwig kamen den Mittelgang herauf, von den brausenden, tiefen Tönen begrüßt und geleitet.

Zu den bunten Kirchenfenstern schien die Sonne herein und umwob mit einer vielfarbigen Strahlenglorie das blumengeschmückte dunkelblonde Haar der Braut. In dem weißen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1897, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_599.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)