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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Wochen nach. – Nach dem lähmenden, kalten Schrecken der ersten unwillkürlichen Abwehr, die keine Gründe gab, auf keine Gründe hörte, war das Leidensgesicht der kranken Mutter als stummer Ueberwinder aufgetaucht und neben ihr stehen geblieben. Der Herzensaufschrei: ich kann nicht! war bald genug zum bittern Weinen der Ergebung geworden. Im Kampfe mit der starken und reinen Kraft der Kindesliebe zerknickte das arme Schattenpflänzchen ihrer verschwiegenen Sehnsucht nach dem Manne, der nun schon über Jahr und Tag so starr und aufrecht neben ihr dahergegangen war, der von all ihrer Not und Pein nichts wußte, auch niemals davon hätte erfahren dürfen. Mit dem Stolz als Wanderstab, mit dem Lächeln der wieder lebenatmenden Mutter als Wegzehrung war ihr von da an die Wanderung ins neue Leben hinein nicht mehr allzu schwer geworden. Von dem Dornenzweig, der sich ihr ans Gewand geheftet hatte, den sie mitschleppte, wußte niemand etwas. Nein, sie hatte wirklich Leid auf sich genommen, dem kein Reichtum Balsam brachte. Und endlich – wo stand sie denn heute noch? Doch wohl auf der Schwelle erst dieses neuen Lebens. Mit ihrem auch noch so tapferen „Ich will!“ und „Ich werde!“ war ja noch nichts gethan. Ob sie sich treu bleiben würde, ob sie standhalten würde – wie konnte sie das heute schon wissen? Sie hoffte es zwar.

Sie hoffte es mit fester Zuversicht. Wie klein wäre ihr Herz gewesen, wenn sie nicht mit tiefer Dankbarkeit zu dem Manne aufgesehen hätte, der gegen ihre Mutter so gut war. Sie nannte ihn sich beständig den Retter, den Helfer, den Gütigen, da sie ihn den Liebsten nicht nennen konnte. Aber der Anblick der sichtbarlich auflebenden Mutter goß ihr täglich neue Freudigkeit in die Seele. So schufen Rührung und Dankbarkeit zusammen ein Gefühl der Sympathie, das sie stark genug wähnte, um damit auf die lange Reise gehen zu können. Den gebieterischen Wink der Natur, der sie am Anfang unbedenklich Nein sagen hieß, hatte sie vergessen, wollte sie vielmehr vergessen haben. Ludwig erinnerte sie nicht daran, obwohl ihm das Wort manchmal auf der Lippe schwebte, wenn sie sich mit ängstlich bittendem Blick aus seinen Armen befreite. Er vertröstete sich im stillen auf später, auf den natürlichen Lauf der Dinge und nannte sie nur lachend sein scheues Vögelchen, das erst noch gezähmt werden müsse. Mit heißer Ungeduld sehnte er den Tag ihrer Vereinigung heran. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte man sich nach Erledigung der nötigen Förmlichkeiten in denkbar kürzester Frist auf dem Standesamt zusammengeben lassen. Von einer kirchlichen Trauung wollte er zuerst überhaupt nichts hören. Er hatte aber nachgeben müssen, hatte auch nach einem Blick auf Hannas betrübtes, fast erschrockenes Gesicht gern wieder eingelenkt. Die Gelegenheit, ihr doch einmal einen persönlichen Wunsch erfüllen zu können, war ihm dann ganz recht.

„Also gut, gehen wir in die Kirche,“ hatte er gesagt, „aber empfiehl deinem geehrten Herrn Pastor, daß er sich nach Kräften mit seinem Sermon beeilt.“

Erdmann, den Hanna in seiner stillen Klause aufsuchte, um ihm von der Wendung in ihrem Schicksal zu erzählen, versprach, sich kurz zu fassen.

„Ich hätte ohnehin nicht viel Worte gemacht,“ sagte er mit einem feinen und weichen Lächeln. „Je tiefer einem das Gemüt bewegt ist, desto weniger spricht man. Fräulein Lieschen Müller und Herrn Ferdinand Schönecker, die ich morgen traue und die mich gar nichts angehen, werde ich eine schwungvolle Rede halten. Meiner lieben Hanna gegenüber – – Herr Thomas wird zufrieden sein. Hat er denn Freude an der Musik? Der Chor wird doch singen?“

„Ja, er wird singen.“

Auf die andere Frage antwortete sie nicht. Nein, er hatte keine Freude an der Musik. Leider!

„Laß sein, laß sein,“ hatte er gleich am Anfang gesagt. „Komm von dem Klavier weg, thu mir den einzigen Gefallen. Worte ohne Lieder, wenn ich bitten darf.“

„Ist das ein Programm?“ hatte das Mädchen mit einem verwirrten Lächeln gefragt.

„Sieh’ doch nicht gleich so niedergedonnert aus,“ war die Antwort gewesen. „Es müssen doch nicht alle Leute in Tönen schwelgen. Man kann auch so glücklich sein, glaube mir. Komm’ auf meinen Schoß. Was Gescheiteres kannst du im Augenblick nicht thun. Ei Gott, ei Gott, macht sie jetzt nicht ein Gesicht, Mama, wie ein Kätzchen beim Gewitter?“

Frau Wasenius hatte ihrer Tochter lächelnd und beruhigend zugewinkt.

„Ein bißchen Musik zuweilen mußt du ihr schon gönnen, Ludwig. Der eine braucht sie, der andere nicht. Dir vorzusingen, wird sie bleiben lassen, aber ganz stumm muß man so eine Drossel nicht machen wollen, sonst wird sie traurig.“

„Herrje, will ich ja auch gar nicht. Aber alles zu seiner Zeit und an seinem Platze. Ich bin jedenfalls ein vollständig unwürdiges Publikum, und ob du mir einen Choral oder ein Liebeslied vorträgst, verschlägt mir keinen Pfifferling. Ich unterscheide es höchstens am Text – wenn ich zuhöre.“

Also, das war abgemacht.

Im Hause wurde nicht mehr musiziert, in seiner Gegenwart wenigstens nicht.

Auch von der „ollen Singerei“ in der Kirche war nur flüchtig die Rede noch. Ungern genug zwar beurlaubte Thomas seine Braut zu den Uebungen am Mittwoch und zu den Abendgottesdiensten. Hanna war aber fest geblieben und hatte keine Probe versäumt.

Sie gab sich nicht Rechenschaft von dem beruhigenden Gefühl des Geborgenseins, mit dem sie, sicher vor seiner Gegenwart, in den Konfirmandensaal des Predigerhauses trat, in dem die Uebungen stattfanden, oder die Treppe der Orgelempore hinaufstieg.

In dem kühlen, feierlichen Kirchenraum mit seinen ernsten Wölbungen, seinem milden, durch die hohen, gemalten Fenster weichgetönten Helldunkel atmete sie jedesmal tiefer auf, als sie selbst wußte. Und willenloser, als sie selbst wußte, wies in diesen Stunden auf den breiten, mächtigen Wellen des Orgelklanges ihre arme Seele Seite an Seite mit der anderen, die so still ihres Weges zog, daß man kaum gewahr wurde, sie lebe noch.

Heute saß Hanna in tiefer Beklommenheit an ihrem gewohnten Platz.

Es war ihre letzte Motette vor der Hochzeit. Am nächsten Mittwoch stand sie dort unten am Altar.

Das Herz schlug ihr hart und schwer, wie vor dem Abschiednehmen. Ihre Stimme zitterte und verlor den Halt, mehr als einmal verdunkelten Thränen ihren Blick. Sie erlitt heute die Musik, anstatt sie zu erleben wie sonst. Sie gab ihr keinen Trost, that ihr nur wehe. Ein innerliches Frösteln, wie es auch der Eilige empfindet, und das von Minute zu Minute stärker wurde, nahm ihr die Ruhe. Ihre Gedanken, schon rastlos, wanderten hin und her, gingen voraus, kamen wieder, erinnerten sich, überlegten und kehrten endlich, wie in einen Nothafen, zu dem einen Punkt zurück, von dem sie in all ihren mannigfachen Verzweigungen ausgestrahlt waren, zur Mutter. Am Hochzeitstag sollte die Mutter zum erstenmal das Haus verlassen und nicht mehr dahin zurückkehren. Von der Kirche aus gleich nach der Tiergartenstraße, so war es abgemacht worden. Der Herr Sanitätsrat hatte einen Krankenwärter bestellt, „den stärksten und geschicktesten“, wie er dem ängstlichen Mädchen versicherte, der sollte das Mutterchen die Treppe hinunter und in die Kutsche tragen, von der wieder in die Kirche und auf einen bequemen Sessel und so weiter bis zur endlichen Landung im neuen Heim. Der Kranken zuliebe war von jeder Festlichkeit zunächst Abstand genommen worden. Die Uebersiedlung brachte Aufregung genug. Ein kleines feines „Souper“ mit der Familie von Ludwigs Schwester, die erwartet wurde, und damit fertig. Der Tribut an den Freundes- und Bekanntenkreis sollte erst einige Wochen später gezahlt werden. Hannas Dank für all diese Rücksichtsnahme hatte er lachend hingenommen. Ihm selber stehe ja der Sinn augenblicklich nicht nach „Gesellschaftstrara“, er denke an nichts andres als daran, seinen Schatz endlich in seine Höhle zu tragen. Zur herzlichen Erleichterung des Mädchens waren sie beide über die Frage einer Hochzeitsreise vollkommen einig; es war keine Rede davon.

Fast erschrocken fuhr Hanna zusammen, als Pastor Erdmann Amen sagte.

Es klang ihr lauter als sonst ins Ohr, fast wie ein Ruf. Amen! Nicht so sei es! Sondern nun ist es aus!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_598.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)