Seite:Die Gartenlaube (1897) 591.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Seitentasche seines modischen Tuchrockes die schönbeschlagene Reiterpistole, deren Lauf er sich damals im Lynndorfer Gehölz an die brennende Stirn gesetzt. Damals hatte er vor dem erschrockenen Kind Komödie gespielt. Jetzt war es ihm furchtbarer Ernst. Im nächsten Augenblick knallte ein Schuß. Henrich Lotefend hatte sich selbst gerichtet! Ein herzu eilender Werkführer – der einzige Insasse des Hauses, der nicht mit dem Zug hinausgerannt war – fand ihn noch lebend auf dem gepflasterten Fußboden liegen. In den Armen dieses mildherzigen Mannes hauchte der Tuchkramer Henrich Lotefend fünf Minuten später den Geist aus. Das letzte Wort, das ihm über die sterbenden Lippen kam, war der traumhaft geflüsterte Name „Hildegard“.

Der Armesünderkarren setzte inzwischen den Weg durch die Stadt fort. Unmittelbar vor dem Gusecker Thor mußte der Zug, einem alten Herkommen gemäß, halten, während ein Geistlicher – diesmal der dritte Stadtpfarrer – sämtliche Teilnehmer an der Hinrichtungsexpedition von der Befleckung, die aus der nahen Berührung mit der Verurteilten etwa entspringen konnte, durch ein stilles Gebet reinigte.

Diesen Augenblick hatte sich der Notar Weigel dazu ersehen, um seiner Klientin die Protesturkunde zur Unterzeichnung auf den Wagen zu reichen. Innerhalb des Gerichtsgebäudes oder des Stockhauses hätte man ihm unzweifelhaft allerlei Schwierigkeiten gemacht. Hier aber, im Angesicht der ganzen Bevölkerung, die ohnehin zur Teilnahme für Hildegard neigte, würden die Blutrichter wohl kaum den Mut haben, die Unterzeichnung zu hindern. War diese Unterzeichnung aber einmal erfolgt, dann glaubte Rolf Weigel auf Grund des Reichsgesetzes wenigstens vorläufig Herr der Lage zu sein.

Der kleine bucklige Mann, von etlichen handfesten Freunden umringt, drängte sich mühsam vor. Als eben der Geistliche beide Hände erhob und ein langgedehntes Amen über den Zug murmelte, rief der Notar die jäh aufblickende Hildegard an und bot ihr die Rohrfeder, während ihr einer von seinen Freunden die Urkunde hinaufschob.

„Ich bitte um Aufschub im Namen des Kaisers!“ sprach der Notar mit fester, weithin vernehmbarer Stimme. „Hildegard Leuthold, meine Klientin, wünscht von der Rechtswohlthat einer Verwahrung an das kaiserliche Reichskammergericht in Wetzlar Gebrauch zu machen. Sie verlangt Revision wegen verschiedener Gesetzesverletzungen und Rechtsirrtümer.“

Hildegard Leuthold erinnerte sich, was der Notar ihr gesagt hatte. Er hielt also doch Wort. Es war nicht nur ein frommer Betrug gewesen, um ihr die Last ihres unermeßlichen Elends leichter zu machen. Ihr blasses Gesicht zuckte. Ein letzter Hoffnungsschimmer belebte ihr das halb schon erstorbene Herz. Mit zitternder Hand umklammerte sie die Rohrfeder. Sie sprang empor, um stehend zu unterzeichnen. Der Stadtpfarrer Melchers hielt ihr, sprachlos vor Ueberraschung, die Urkunde. Aber immer heftiger zitterte die Hand des gequälten Opfers. Ein krampfhaftes Zucken ging durch den Körper, der unter der Aufregung dieser fürchterlichen Fahrt zusammenzubrechen drohte.

„Seht, wie sie zittert und bebt,“ rief, mit triumphierendem Hohn um sich blickend, Balthasar Noß in die erregte Menge hinein, „seht, wie der Böse in ihr sich sträubt gegen die Niederschrift des Namens, den sie in der heiligen Taufe empfangen und den sie bei den fluchwürdigen Orgien auf dem Herforder Steinhügel hat abschwören müssen! Wollt ihr jetzt noch zweifeln, daß sie eine Hexe ist?“

Als Hildegard diese haßerfüllte Anklage vor allem Volk hörte, kam ihr der geschwundene Mut wieder. Warmblühendes Blut stieg ihr in das bewegte Antlitz, die wunderbaren, großbewimperten Augen sprühten und leuchteten – sie sah aus wie ein Engel.

„Nein, ich bin keine Hexe,“ rief sie, mit fester Hand die Rohrfeder ergreifend und ihren Namen unter die Urkunde setzend. „Unmenschliche Qualen habt ihr mich erdulden lassen, die mich an den Rand des Wahnsinns brachten. Ich habe sie mit Gottes Hilfe ertragen und wenn ich jetzt schwach wurde – es ist vorüber, der Allmächtige wird mir weiter helfen!“

Und rings im Volke erhoben sich laut und lauter Stimmen zu ihren Gunsten …

„Sie ist doch vielleicht unschuldig!“

„Das liebe Gesicht!“

„Der süße, holdselige Mund!“

„Ja, der Tuchkramer Lotefend hat die Wahrheit gesprochen! Das alles ist Niedertracht und bloße Verleumdung!“

„So sieht keine Hexe aus!“

„Das Reichskammergericht wird ihre Unschuld herausbringen! Wilde Drohungen wurden laut, furchtbare, unheilverkündende Schmähworte gegen die Blutrichter.

Balthasar Noß hielt eine rasche Musterung seiner Streitkräfte. Die stämmigen Stadtsoldaten, ihre hellblinkenden Speere über den Achseln, standen inmitten des Lärmens ruhig und teilnahmslos. Auf diese gut bezahlten Schergen, die von jedem „Brand“ noch besondere Einkünfte bezogen, konnte sich Noß verlassen. Einem raschen Entschluß folgend, sprang er von hinten auf den Bretterboden des Armesünderkarrens.

„Wer die Hexe verteidigt,“ schrie er mit Donnerstimme, „der macht sich gleichfalls der Hexerei schuldig. Die Protesturkunde ist nichtig, Lug und Trug! Wer wagt es, der Gerechtigkeit in den Arm zu fallen? Wer untersteht sich, in strafbarer Mißachtung des Landesherrn für die Hexe Partei zu ergreifen?“

„Ich!“ klang es da unmittelbar hinter ihm. „Ihr seid ein ehrloser Schuft, Balthasar Noß! Nur aus Habgier und Blutdurst mordet Ihr wie ein hungriger Wolf!“

Es war der Zunftobermeister Karl Wedekind, der so dem lange aufgehäufter Groll seines verzweifelte Herzens Luft machte. Alles hatte er elend eingebüßt, was er an Glück auf dieser Erde besessen hatte: die kleine Elma war tot, seine Ehewirtin Brigitta genas jetzt in der Siechenabteilung des Stockhauses allgemach dem Scheiterhaufen entgegen. Und die Verschworenen rührten sich nicht. Seit Doktor Ambrosius geflohen war, hatte man ihm auch nicht das Geringste mehr mitgeteilt. Da ward dem trostlosen Manne das unaufhörliche Harren zu viel. Er wollte nun seine Rache für sich haben – mochten sie ihn dann rädern und vierteilen. Und gleichzeitig mit den rasenden Schmähworten, die er dem Blutrichter zurief, hob er den Arm, der einen zehnpfündigen Hammer schwang. Eine Sekunde noch, und Karl Wedekind hätte mit einem tollen Satz den Zentgrafen erreicht und ihm den Kopf zertrümmert. Adam Xylander jedoch packte ihn rechtzeitig beim Kittel. Im selben Augenblick stürzten drei oder vier Stadtsoldaten heran und machten ihn dingfest.

Balthasar Noß hatte die große Gefahr erst erkannt, als sie vorüber war. Mit erkünsteltem Gleichmut wies er auf den baumstarken Angreifer, der sich noch immer wild bäumte und die fürchterlichsten Verwünschungen ausstieß.

„Man binde den Uebelthäter!“ sprach er gebieterisch. „Vermutlich ein Schandgenosse der Malefikantin! Führt ihn augenblicks nach dem Stockhaus! Zwei Mann von euch sind hier entbehrlich. Das habt ihr gut gemacht, Leute! Euer Lohn wird nicht ausbleiben. Und wie diesem Aufrührer und Verleumder gehe es jedem, der seiner Obrigkeit die schuldige Ehrfurcht weigert. Jetzt aber vorwärts! Stadtsoldaten, schützt mir die Hoheit des Tribunals! Ich befehle euch das im Namen unseres allergnädigsten Landesherrn. Jeder Versuch, uns den Weg zu verlegen, wird mit unnachsichtlicher Strenge geahndet werden!“

„Platz da!“ brüllte der Obmann der Stadtsoldaten. Von neuem setzte sich der Todeszug in Bewegung. Das Volk, verblüfft von der zermalmenden Schnelligkeit, mit der man den Tischlermeister unschädlich gemacht hatte, und beeinflußt von der dämonischen Kraft, die aus der kühnen Entschlossenheit des Zentgrafen sprach, wich noch einmal zurück. Dem Notar Weigel hatte die Faust des Gerichtsschreibers, der voll Bewunderung zu Balthasar Noß aufgeschaut hatte, die Verwahrungsurkunde mit einem heftigen Ruck aus den Fingern gerissen. Das Undenkbare schien also wirklich zu werden: die frechste Mißachtung einer reichsdeutschen Gesetzesvorschrift, die der Notar für einfach unantastbar gehalten. Wie ein Verstörter wankte Rolf Weigel heim. Hildegard Leuthold aber sank wieder halb ohnmächtig an die Schulter des Priesters, der ihre Linke ergriff und mit schier versagender Stimme ein leises Gebet murmelte.

26.

Noch immer klang das Gewimmer des Armesünderglöckchens vom Turm der Marienkirche. Nur für Augenblicke war es durch den Tumult am Gusecker Thor übertäubt worden.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_591.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)