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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Auch Elma Wedekind genoß in dieser mondhellen Julinacht keiner erquicklichen Rast. Alle paar Augenblicke fuhr sie vom Schlummer empor, meinte, der Tag graue, ihr Vater begehre sie oder die häusliche Arbeit rufe. Halbe Stunden lang saß sie im Bett aufrecht, sann über das traurige Schicksal des Freundes nach und wiederholte sich inbrünstig, daß Hildegard Leuthold bei all ihrem Jammer doch tief zu beneiden sei. Denn das eine konnte ihr ja kein Blutrichter und keine Gewalt der Hölle rauben: daß Doktor Ambrosius sie lieb hatte! Von Hildegard und Ambrosius kehrten ihre Gedanken jedesmal rasch zur Mutter zurück. Sie wunderte sich, daß sie in ihrem unendlichen Weh noch Zeit fand, sich um den Schmerz andrer zu kümmern, die doch kein Band der Blutsverwandtschaft mit ihr verknüpfte. Aber das war ja eben das Rätselhafte: alles, was Doktor Ambrosius betraf, ging ihr ebenso nahe wie das eigene Leid. Ja, sie meinte, fast näher.

Um drei Uhr war es schon völlig Tag. Sie quälte sich noch eine Weile, wieder den Schlaf zu finden. Als dann aber die ersten Strahlen der Sonne über das Gärtchen zuckten und die Wipfel der fruchtbeladenen Kirschbäume in rötliches Gold tauchten, hielt sie’s nicht länger aus. Sie erhob sich schnell, wusch sich und zog sich an und ging nach der Vorderstube, wo auf der Fensterbank am Platze des Vaters die große Hausbibel lag. Als Tochter wohlhabender Eltern hatte sie leidlichen Schulunterricht genossen. Sie las fließend, Gedrucktes sowohl wie Geschriebenes. Nun schlug sie die Bibel auf und vertiefte sich beim Frühlicht des neuen Tages heilbegierig in das ihr längst vertraute Gotteswort.

Der schwere Band öffnete sich beim vierten Kapitel des Predigers Salomonis. Der Vater mußte hier gestern aufgehört haben, denn hier steckte das zopfartig geflochtene Buchzeichen aus rotem Leder. Und was Elma in diesem Kapitel fand, das schien ihr wie ausgewählt für die achtlose Stimmung ihres todbangen Gemüts. Es hieß da wie folgt:

„Ich wendete mich und sahe alle, die Unrecht leiden unter der Sonne. Und siehe, da waren Thränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster, und die ihnen Unrecht thaten, waren zu mächtig, und so konnten sie keinen Tröster haben.

Da lobete ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben hatten.

Und der noch nicht ist, der ist besser denn alle beide, weil er des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschiehet.“

Sie las und schaute dann über das Buch hinweg auf die getünchte Wand, wo jetzt ein schmaler, flimmernder Streifen der Frühsonne sichtbar ward. Sie dachte den Worten der Schrift gramerfüllt nach. Sie fragte sich seufzend, warum das so sein müsse – bis ihr dann heiß auf die Seele fiel, was der Herr Stadtpfarrer Melchers neulich über die Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses und die Sündhaftigkeit des Murrens und Grübelns gesagt hatte. Nun senkte sie voll Demut die Stirn, flehte zu Gott um Verzeihung und sprach ein stilles Gebet für all ihre Lieben, auf daß in Erfüllung gehe, was da geschrieben steht. Ich will ihre Thränen trocknen. – Dann las sie voll gläubiger Andacht weiter.

Mit einem Male glitt ein Schatten an ihrem Fenster vorüber, ein zweiter, ein dritter. Aufschauend erkannte sie zu ihrem Entsetzen die gelbgrauen Gewänder und Mützen der städtischen Rutenknechte. Und jetzt pochte es auch schon draußen wider die Hausthür.

Kurz entschlossen streckte sie ihren Kopf durch den kleinen Halbflügel. Ihr Herz krampfte. Aber sie hielt sich wacker. „Zu wem wollt Ihr?“

„Zum Doktor Ambrosius,“ versetzte der Obmann. „Oeffnet ohne Verzug!“

„Ist jemand erkrankt?“ Der Obmann lachte.

„Erkrankt? Wenn dem Herrn Doktor nur selber die Kur anschlägt! Nein, Jungfer! Wir kommen ihn festnehmen. Flink also! Oder ich stoß’ Euch die Thür’ ein.“

„Gleich, gleich! Vergönnt mir nur eine halbe Minute, um ein Gewand überzuwerfen. So wie ich bin, kann ich Euch jetzt unmöglich aufmachen.“

„Gut. Aber trödelt nicht!“

Elma bebte an allen Gliedern. Im ersten Augenblick war ihr zu Mut, als könnte sie keinen Schritt von der Stelle. Dann aber sauste sie wie ein Sturmvogel die steile Holztreppe hinan. Der Eingang zu den Wohnräumen des jungen Arztes war glücklicherweise nicht zugeriegelt. Elma trat geräuschlos hinein. Wie sie dann wahrnahm, daß Doktor Ambrosius vollständig angekleidet auf seiner Bettstatt ruhte, hätte sie beinahe vor heller Genugthuung aufgejubelt! Zweckmäßiger konnte sich das nicht fügen. Ohne sich zu besinnen, rüttelte sie ihn bei der Schulter.

„Flieht!“ raunte sie angstvoll, da er die Augen aufschlug. „Drunten am Hausthor stehen die Rutenknechte. Sie wollen Euch festnehmen. Durch den Garten entkommt Ihr leicht nach der Korngasse. Rechts an dem großen Ahornbaum steht eine Leiter. Wenn Ihr die Leiter mit über die Mauer zieht, haben die Schergen das Nachsehen. Eilt nur, eilt! Ich halte die Spitzbuben so lange noch auf, bis Ihr hinüber seid!“

„Also doch!“ knirschte Ambrosius. „Dank dir, du liebes Kind! Wenn du dich nur nicht selber ins Unheil bringst!“

„O, ich will mich schon ausreden!“

Hastig und doch ohne zu lautes Geräusch klommen die Zwei hinab in das Erdgeschoß. Elma wollte jetzt eben zur Hausthür schreiten um je nach Befund aufzumachen oder noch irgendwie Vorwände für eine weitere Verzögerung zu suchen, als schon ein breitblendender Lichtstreifen in das Halbdunkel der Flur hereinfiel. Rudloff, der Altgeselle, war von dem Pochen erwacht und hatte auf die zornige Drohung des Obmanns hin, sämtliche Insassen sollten für die unbotmäßige Langsamkeit Elmas büßen, sofort geöffnet.

Der Obmann sah noch gerade, wie Doktor Ambrosius im Hausgarten verschwand. Er wollte dem Flüchtling nachstürmen. Aber da stieß er auf ein unerwartetes Hemmnis. Zwischen den Pfosten des schmalen Hinterpförtchens stand bleich und verstört Elma Wedekind. Sie klammerte sich rechts und links mit verzweifelter Anstrengung fest und verlegte ihm so den Durchgang.

„Fort, Hexenbrut!“ rief er empört und suchte sie mit Gewalt zurückzudrängen.

Das Kind stöhnte. Aber der Griff, mit dem sie die Thürpfosten umklammert hielt, lockerte sich auch nicht um Haaresbreite. Die Todesangst um den teuren Mann, der für ihr kindliches Herz der Inbegriff alles Guten, Hohen und Herrlichen war, lieh ihr fast übermenschliche Kräfte.

„Er ist unschuldig!“ rief sie mit geller Stimme. „Ihr habt meine unglückliche Mutter geholt, wollt ihr auch ihn abschlachten?“

„Wahnsinnige!“ schrie der Obmann. „Willst du dich selbst auf den Block liefern? Gieb jetzt Raum, oder ich schlag’ dich zu Boden!“

Die beiden Mitknechte waren herangetreten. Der eine hob bereits seine Stoßwaffe.

„Ihr werdet doch nicht!“ rief der Altgeselle verzweifelt und fiel ihm rasch in den Arm. „Ich bitt’ Euch um Christi willen! Ihr seht ja doch, daß sie völlig von Sinnen ist! Der Schmerz um die Mutter hat sie wie toll gemacht! Und ein wehrloses Mägdlein!“

Etwas beschämt ließ der Knecht seine Waffe sinken. Unterdes hatte der Obmann das verzweifelte Kind doch auf die Seite geschleudert. Bei dem erneuten Anprall stürzte sie rücklings über die steinerne Beetumrahmung, aus deren Mitte der einst so liebreich gepflegte Pfirsichbaum an der Wand emporwuchs. Noch im Taumeln jedoch nahm sie wahr, daß Doktor Ambrosius bereits die Mauer erstiegen hatte und jetzt die Leiter über den First zog. Er hatte den Weg in die Freiheit, von dem sie beim Anblick des grellfarbigen Landschaftsbildes an der Mauer so oft geträumt hatte, glücklich gefunden. Eh’ man ihm folgen konnte, war er vielleicht schon in Sicherheit! Jedenfalls hatte er einen tüchtigen Vorsprung! Der laute Schrei, der sich von Elmas Lippen rang, war fast noch ein Freudenschrei. Dann stöhnte sie schwer auf. Ihr Antlitz entfärbte sich. Sie verlor die Besinnung.

Während die Stadtknechte wild fluchend und drohend das

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