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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Nein, nein, nein!“ wehrte Frau Wasenius mit nervöser Hast. „Bitte, Herr Thomas, quälen Sie mich nicht! Ich bin ganz zufrieden so. Ich brauche das alles schon lange nicht mehr, ich habe mich ganz an mein Leben hier oben gewöhnt. Ich würde mich entsetzlich ängstigen bei solchen Kunststücken. Ich danke Ihnen sehr, aber Sie thun mir den größten Gefallen, wenn Sie mich ruhig hier in meinem Stuhl sitzen lassen. – Und zu Hanna: „Es ist mir ja leid, mein Kind, daß du durch mich um diese Auffrischung kommst –“

„Auffrischung!“ unterbrach Hanna vorwurfsvoll ihre Mutter. „Wie du redest. Als ob ich krank und schwach wäre und Erholung haben müßte! Ich wollte, dir wäre so wohl wie mir. Sprechen wir doch nicht von ganz zwecklosen, unvernünftigen Dingen.“

Thomas hatte sie wieder mit glänzenden Augen betrachtet. „Es wäre entzückend, mein sehr verehrtes Fräulein, wenn ich mir gestatten dürfte, Sie zu einer Ausfahrt abzuholen. Aber leider Gottes – die lieben Nebenmenschen –“

Hanna unterbrach ihn mit einer gleichgültig ablehnenden Handbewegung. „Nicht der Mühe wert, Herr Thomas, nur ein Wort über die Sache zu verlieren. Bitte!“

Er verabschiedete sich endlich mit der Versicherung, morgen wiederzukommen, um Bescheid über seinen Zusammenstoß mit Giesecke zu bringen.

„Aber das könnten Sie uns ja auch brieflich mitteilen, Herr Thomas,“ sagte Frau Wasenius freundlich abwehrend. „Ich möchte Ihre bedrängte Zeit –“

„Nicht doch, meine gnädigste Frau.“ Er zog ihre Hand an seine Lippen. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß Sie es mir einfach angethan haben, daß es mir vom ersten Augenblick an wunderbar heimelig bei Ihnen zu Mute gewesen ist. Ich komme gern wieder, wenn Sie es mir gestatten.“

Hanna begleitete den Gast zur Thür. Auf dem Vorplatz sagte Thomas mit gedämpfter Stimme:

„Ich bitte Sie, mein bestes Fräulein, kann man denn wirklich und wahrhaftig nichts thun, um der armen Märtyrerin das Leben ein bißchen zu erleichtern? Ich bin sonst gar kein so weichmütiger Geselle, können Sie mir glauben. Aber der Anblick dreht mir alles um und um. Sie sollten nett sein und mir erlauben, ein bißchen von der Dankbarkeit, die ich gegen meinen alten Lehrer nicht mehr loswerden kann, auf seine Frau zu übertragen. Spät genug fang’ ich damit an. Aber wozu hab’ ich denn das scheußlich viele Geld, wenn ich mir damit nicht ’mal gelegentlich eine kleine Extrafreude machen soll? Immer bloß gut essen und trinken und ins Theater gehen und – na überhaupt! Also wie ist das? Schlucken Sie Ihren Stolz ein Endchen weit ’runter. Sagen Sie mir, womit könnt’ ich der armen Frau wohl eine Freude machen?“

„Ich danke Ihnen sehr,“ sagte Hanna verlegen, bedrückt, aber auch gerührt. „Ich wüßte wirklich nicht – ja, wenn Sie ihr denn ein paar Blumen schicken wollen. Rosen hat sie schon lange nicht mehr gesehen.“

„Machen wir! Soll sie haben! Also adieu, mein – sehr verehrtes Fräulein. Auf Wiedersehen. Ich gehe ganz anders fort, als ich gekommen bin, wahrhaftig! Er nahm ihre Hand, die sie ihm bot, und drückte sie sehr fest an seine Lippen, that dann geschwind dasselbe mit der andern, die sie ihm nicht geboten hatte.

„Also auf morgen!“ murmelte er und lief die Treppe hinunter.

Nach einer Stunde kam ein großer Blumenkorb mit einer Fülle der herrlichsten Rosen. Frau Wasenius traute ihren Augen nicht. Sie ließ ihn sich auf den Arbeitstisch stellen, um ihn ganz nahe zu haben, und beugte ihr armes, blasses Gesicht tief in die duftigen Blüten. „Er ist doch sehr nett, nicht wahr? Ein bißchen kurz angebunden manchmal, nicht sehr feinkörnig, wenigstens im Reden – aber sicher von der besten Meinung. Mir fällt wieder allerlei Freundliches ein, was der Vater von ihm gesagt hat. Es ist doch gut, daß er gekommen ist, meinst du nicht auch?“

„Ja, Mutter, es ist gut,“ sagte Hanna sanft. Sie seufzte dann verstohlen „Froh wär’ ich, wenn wir erst wohlgeborgen da draußen säßen, in Marienfelde, oder in Friedrichsfelde, oder irgendwo, ganz für uns allein.“

8.

Es schien wirklich „gut“, daß er gekommen war, dieser Herr Ludwig Thomas.

Wenigstens zu Anfang. Auf die bisher so tiefgedrückte Stimmung der Mutter war seine heitere, zutrauliche Art, seine zwanglose burschikose Redeweise mit dem unverkennbaren, aber nicht unsympathischen Beigeschmack von fideler Berliner Schnoddrigkeit, seine herzliche, wenn auch fruchtlose Teilnahme von entschieden wohlthätigem Einfluß, der sich zuerst bei jedem neuen Besuch befestigte. Denn er war bald wiedergekommen nach jenem ersten Sonntag, und oft. Trotz seiner zeitfressenden Geschäfte, die ihn jahrelang so ausschließlich in Anspruch genommen hatten! Es schien ihn eine Art Fieber rückläufiger Dankbarkeit erfaßt zu haben.

Zunächst hatte es sich freilich um den versprochenen Besuch beim Hauswirt gehandelt. Getreu seinem Wort hatte Thomas am folgenden Tage seinen Angriff eröffnet. Zornschnaubend war er aber eine halbe Stunde später hinaufgekommen, um von seinem Mißerfolg zu berichten.

Der Herr Maurermeister Giesecke war ganz nett und zugänglich gewesen. Aber Giesecke junior, Sohn und Teilhaber im Geschäft, hatte sich als „bocksteif“ erwiesen, trotz der sechsundzwanzigjährigen „Freundschaft“, die er mit hätte überkommen haben müssen. Ohne seine Zustimmung konnte der Alte kein Uebereinkommen schließen, und die schlechten Zeiten berechtigten Giesecke Sohn, der zu dem Zweck der Unterredung aus seinem ersten Stock heruntergerufen worden war, zur äußersten Strenge in der Wahrung seiner Interessen. Sein Bedauern über das Mißgeschick der Dame war bedeutend, aber es beherrschte ihn nicht genügend, um ihm deshalb zu gestatten, seine Pflicht als Familienvater außer acht zu lassen. Die Frau Oberlehrer möge nur die Gewogenheit haben, ordnungsgemäß am ersten Oktober zum ersten April zu kündigen. Auf die Frage, was die Herren zu thun gedächten, wenn Frau Wasenius im Juli ihre Miete nicht, oder doch nicht vollständig und von da ab vielleicht gar nicht mehr werde zahlen können, beschwichtigte Junior ein wohlwollendes Murmeln Seniors mit einer Handbewegung und ersuchte dann achselzuckend den Herrn Bankier, doch nur erst den Juli abzuwarten. Vielleicht gelänge es der Frau Oberlehrer, einen Untermieter zu finden, der in den Kontrakt einträte. Im übrigen – Thomas hatte die weitere Darlegung dieses „Uebrigen“ nicht abgewartet, sondern hatte sich empfohlen, von dem Alten hinausbegleitet, der ihm unter der Thür noch zugeraunt hatte: „Lassen Sie man, den ersten Oktober schind’ ich ihr noch raus, bis April brauch’ sie nich bleiben, ich muß ihn bloß erst ’mal ein bißchen alleine vorkriegen.“

Mit dieser trostvollen Auskunft und mit einem Blumenstrauß war Thomas bei den Frauen erschienen, er hatte das duftige Mitbringsel derweilen in seinem vor der Thür haltenden Wagen aufbewahrt gehabt. Ein „Gedicht“ von einem Strauß, von Schmidt Unter den Linden.

Er legte ihn Frau Wasenius in den Schoß, küßte ihr die Hand und bat um Erlaubnis, sich erst einmal über den „infamen Kerl“ da unten sattschimpfen zu dürfen. Die Bestürzung über den Bescheid suchte er alsdann durch um so lustigere Laune wieder abzuschwächen. Seine Lebensaufgabe solle es sein, den berühmten Untermieter zu finden! Tod oder lebendig müsse er zum ersten Juli heran, am besten wohl lebendig. Einstweilen falle ihm ein, daß er ja unterwegs ein Schächtelchen Zuckerzeug für Fräulein Hanna habe mitgehen heißen. Ob sie ihm die Freude machen wolle, es aufzuknuppern? Aus dem Seidenpapier entwickelte sich eine kleine elegante Bonbonniere von Savadé.

Hanna, dunkelrot, bedrückt, verlegen, hielt das zierliche Ding noch unschlüssig zwischen den Fingern, als draußen geläutet wurde und mit ziemlichem Lärm – pünktlich um sieben Uhr – der Krankenstuhl seinen Einzug hielt.

Hannas erstes Gefühl, das sie wie eine heiße, erstickende Welle übergoß, war: Warum sind wir jetzt nicht allein? Unser liebes Geheimnis! Unsere Ueberraschung! Was geht das alles den an? Sie stammelte ein unverständliches Wort, warf die Bonbonniere auf den Tisch und lief hinaus.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_552.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)