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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Der Trugschluß ist allerdings haarsträubend. Aber was wollt Ihr? Einsicht und Logik dürft Ihr ja doch bei den Anhängern dieser abscheulichen Praxis überhaupt nicht voraussetzen. Und nun vollends hier unter der Schreckensherrschaft des Noß! Was frommt ein mattes Beschönigen! Wir sind vollständig rechtlos! Die Vertretung der Stadt läßt uns elend im Stich. Im Rathaus überwiegen die Elemente, die teils vor Noß jämmerlich zittern, teils sein tollwütiges Treiben aus Ueberzeugung begünstigen. Kunhardt, der Bürgermeister, ist zwar ein guter, wohlwollender Mensch, aber ein Schwächling. Kurz, die Zustände sind geradezu himmelschreiend.

Doktor Ambrosius ließ das Kinn schwer auf die Brust sinken. Nach einer Pause hub der Notar wiederum an:

„Das Reichskammergericht zu Wetzlar hat ja neuerdings auf eingelegte Beschwerden hin mehrfach die Verweigerung eines Verteidigers auch beim Hexenprozeß für unstatthaft erklärt. Das Unglück wollte jedoch, daß die Verfügungen des hohen Gerichtshofes immer zu spät kamen. Die Malefikantenrichter – und namentlich unser Balthasar Noß – haben ein sehr schnelles Verfahren, während die Herren zu Wetzlar … Nun, Ihr kennt ja wohl sattsam den Wetzlarer Schneckengang.“

„Ja ums Himmels willen, hat eine solche Beschwerde denn nicht aufschiebende Kraft?“

„Sie sollte es haben – jeder Billigkeit und Vernunft zufolge. Aber da giebt’s ja leider Gottes Winkelzüge und Ausflüchte genug. Besonders in Glaustädt-Lich, wo sich das Tribunal der wärmsten Fürsorge der Landesregierung erfreut. Und das ist ja die uralte Not in Deutschland: die Fürsten der einzelnen Territorien machen sich gerne so frei als möglich von dem lästigen Gängelbande des Reiches. Mit einem Wort – es ist wenig Aussicht vorhanden, die dauernde Beigebung eines Rechtsbeistands durchzusetzen, und noch weniger Aussicht, daß diese Beigebung – wenn sie wirklich erreicht wird – auch von Erfolg gekrönt ist.

Doktor Ambrosius blickte erregt auf. Mit sämtlichen Einzelheiten stand ihm jetzt ein Fall vor der Seele, den ihm vor etlichen Wochen der gelehrte Jurist aus dem Dernburgschen, Herr Theodor Welcker, mitgeteilt hatte. Dem Scharfsinn und der Rastlosigkeit eines Notars zu Fulda sollte es im Vorjahr geglückt sein, den Malefikantenprozeß eines Buchdruckers monatelang hinauszuziehen, bis es dann möglich ward, durch kunstvoll hergestellte Verbindungen die Gnade des Landesherrn anzurufen. So fand auf allerhöchsten Befehl eine ganz neue Beweisaufnahme statt, deren Ergebnis – ein Treffer unter zehntausend Nieten – die vollständige Freisprechung und Wiedereinsetzung in das beschlagnahmte Eigentum war.

Doktor Ambrosius erzählte das. Der kleine Notar hörte ihm schweigend zu. Er drehte sein langes eisernes Lineal zwischen Daumen und Zeigefinger und nickte zuweilen wie einer, der nachsinnt. „Die Sache ist mir bekannt,“ sagte er endlich. „Ein Fall, der schon aus rein technischen Gründen auf unsere Glaustädter Verhältnisse keine Anwendung leidet. Je mehr ich’s bedenke, um so fester bin ich davon überzeugt, diese Methode würde hier gleich im Beginn scheitern. Die Glaustädter Gerichtsverfassung läßt die meisten von Euch erwähnten Kunstgriffe gar nicht zu – ganz abgesehen von der hochfahrenden Willkür der Blutrichter. Nur ein einziges Mittel wüßte ich noch, um Zeit zu gewinnen. Ein Mittel, das allerdings durchaus nicht ohne Bedenken wäre …“

„Sprecht!“ rief Doktor Ambrosius aufatmend.

„Nun, man müßte die Verwahrung an das Reichskammergericht erst nach erfolgter Verurteilung einreichen.“

„Wieso? Nach erfolgter Verurteilung …?“

Die Verwahrung nach Fällung des Urteils hindert nämlich unbedingt die Vollstreckung. Und zwar höchst wahrscheinlich auf lange hinaus. Es sei denn, daß die Blutrichter sich der Gefahr aussetzen wollten, unnachsichtlich an Leib und Leben gebüßt zu werden. Der Notar, der einem Verurteilten diese Verwahrung zum Unterzeichnen vorlegt, steht unmittelbar unter dem Rechtsschutz des Kaisers. Bis das Reichskammergericht entschieden hat, darf der Zentgraf dem Verurteilten nicht ein Haar krümmen. Das wäre Aufruhr und Hochverrat und könnte den Landesherrn in arge Verlegenheit bringen. Wenn Ihr denn also wirklich glaubt, es sei für Euch und die Beschuldigte wertvoll, daß die Sache verschleppt wird …“

„Aber dann müßte doch Hildegard einräumen, was man ihr schuld giebt! Denn sonst …! Was hülfe zuletzt ihre Befreiung, wenn sie vorher …“

Der Gedanke an das fürchterliche Gespenst der Folter ließ ihm das Wort auf der Zunge ersterben.

Rolf Weigel verstand ihn. „Ein Geständnis müßte sie freilich ablegen,“ sagte er langsam. Darüber sind wir doch längst im klaren: ob sie gesteht oder leugnet – für den Ausgang ihres Prozesses bleibt sich das vollkommen gleich. Durch eine rasche Bejahung alles dessen, was ihr das Tribunal vorhält, erspart sie sich nur die grauenhafte Mißhandlung.

Doktor Ambrosius sprang hastig empor. Er stürzte ans Fenster, dessen geöffnete Halbscheibe die taufrische Nachtluft hereinließ. Er war wie betäubt. Sein Kopf glühte. Es brauste ihm grell in den Ohren.

„Aber das ist ja unmöglich!“ rief er, stürmisch zurückkehrend. „Vor allem: wer soll ihr die nötigen Winke erteilen? Ihr anraten, was Ihr da vorschlagt? Und wenn selbst – wird sie der Weisung gehorchen? Nicht vielleicht gar eine Falle darin erblicken? Und dann – Ihr kennt sie ja nicht! Sie ist zwar ein weiches, hingebungsvolles Geschöpf, aber so stolz und stark! Sie hält vielleicht ein unwahres Geständnis für eine Selbsterniedrigung, für einen sündhaften Verrat am Heiligsten!“

„Man muß ihr das eben begreiflich machen! Wir leben in Zeitläufen, die auch das Ungewöhnlichste rechtfertigen. Beruhigt Euch, Herr Doktor! Ich will morgen am Tag den Versuch machen, sie persönlich zu sprechen. Nein, seid nicht gar zu verzweifelt! Ich handle hier nicht nur als Rechtskundiger, sondern als Freund des wackeren Magisters, als Freund Hildegards und – gestattet mir’s! – auch als der Eure. Die mannhaft verständige Art, mit der Ihr den Stab brecht über das ganze fluchwürdige Institut, hat Euch mein Herz gewonnen. Wenn alle Glaustädter Bürger so dächten wie Ihr und ich, dann wäre das Nest dieser scheußlichen Raubvögel bald ausgehoben. Hier meine Hand! Was wäre der Mensch noch wert, wenn nicht das Alter einmal die Todesgefahr mißachten sollte um der frischblühenden Jugend willen! An mir, Herr Doktor, ist nichts weiter gelegen! Ich verspreche Euch also, mit Aufbietung all meiner Kräfte für Euch und Eure Hildegard einzutreten. Ich bin nicht so ganz ohne Einfluß. Ich werde mir Zutritt in ihr Gefängnis verschaffen. Ich werde ihr klar auseinandersetzen, um was es sich handelt und wie Ihr gerechnet habt. Und ebenso übernehme ich’s, ihr demnächst die Verwahrung zu unterbreiten – und müßt’ ich noch auf dem Richtplatz die Henker zur Seite stoßen.

Doktor Ambrosius umarmte den kleinen buckligen Mann unter Thränen.

„Ich dank’ Euch von ganzer Seele,“ sprach er gerührt. „Ich wußt’ es ja gleich, als ich zum erstenmal Euch ins Auge sah, daß wir Gesinnungsgenossen sind und heimliche Waffenbrüder. Hoffentlich kommt noch einmal die Zeit, da wir uns freimütig zu unserer Meinung bekennen dürfen. Bis dahin schweigen und dulden wir!“

„Und ersetzen durch spürende Klugheit die offene That,“ murmelte Weigel.

„Ein schlechter Ersatz! Nun erst fühl’ ich, wie tief Glaustädt gesunken ist! Aber das schwör’ ich Euch beim Grab meines Vaters, wenn unser Plan fehlschlägt“ – (er dachte hierbei halb an den Plan der Verschworenen halb an den Plan des Notars) – „dann soll dieser Bluthund seinen Triumph nicht erleben! Ich steche ihn über den Haufen wo ich ihn finde und wär’s im Gotteshaus, das er durch seine Gegenwart so schmachvoll besudelt! Ich schwör’ es, ich schwör’ es!“

Er streckte wild schüttelnd die Faust empor.

„Mäßigt Euch und verratet Euch nicht!“ mahnte Rolf Weigel. „Auch diesen Landverderber wird einst sein Schicksal ereilen. Gott ist gerecht und allweise, wenn auch die Menschen in Thorheit wandeln.“

Geraume Zeit noch saß Doktor Ambrosius mit Rolf Weigel in flüsterndem Zwiegespräch. Erst kurz vor Elf nahm er von dem Notar Abschied. Ganz zerwühlt von der qualvollen Herzensangst um die Geliebte und zitternd vor Ingrimm über die rohe Gewaltherrschaft des Zentgrafen, schritt er langsam hinaus in die mondklare Sommernacht.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_547.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)