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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

aus. Hanna wußte, sie würde nun nur noch erschrecken, würde sich grämen über die große Ausgabe in diesen neuen, trostlosen Verhältnissen. Als ob sie nicht längst verschmerzt wären, die einzelnen Markstücke, aus denen die Summe zusammengewachsen war. Als ob das überhaupt Schmerzen gemacht hätte. Ach, keine Schmerzen, nur Freude! Und als ob sie ihn nun nicht erst recht brauchten, diesen Stuhl, worin die lahme Mutter fortgeschafft werden mußte, wenn sie auszogen!

Hanna stand auf, es ergriff sie eine schmerzhafte, fieberische Unruhe. Auf ihren leisen Schuhen begann sie rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihr Herz schlug schwerer und schwerer in ihrem nun schon übermüdeten Kopf knäuelten sich die wehvollen Erinnerungen, die Zahlen, die Furcht vor der Zukunft zu einem wirren Klumpen zusammen, der sich ihr hinter die Stirn legte, auf die Augen drückte. Es wurde ihr matt und mutlos zu Sinne. Am Klavier, an das sie mit dem Arm gestreift war, blieb sie stehen. Sie stützte die Ellbogen auf und legte das heiße Gesicht in die Hände. Nur nicht weinen, dachte sie noch. Und dann weinte sie schon, heiß und bitterlich.

Im Nebenzimmer wurde plötzlich ein Stuhl gerückt.

Hanna fuhr zusammen und richtete sich auf. Hatte er etwas gehört? Sie trocknete schnell ihre Thränen und lauschte, ohne sich zu rühren. Aber drinnen blieb alles ruhig. Auch kein Schritt ließ sich vernehmen. Es war also nur Zufall gewesen, das Geräusch.

Sie weinte aber nicht mehr, über dem Schrecken war es ihr vergangen. Doch der Kopf schmerzte sie arg, auch begann sie zu frösteln. Sie wollte zu Bett gehen, ruhen. Vielleicht kam doch noch zuletzt der Schlaf und half in den neuen Morgen hinüber.

Wie lange er da drinnen aber wohl noch aufsitzen wollte über seinen Büchern? Es mußte doch schon spät sein. Sie ging zum Schreibtisch. Im Lampenschein, der schon zu verglühen begann, sah sie nach der Uhr. Beinahe Zwei. Hatte sie sich so lange verweilt? Und die Mutter ganz vergessen? Ach, nicht vergessen aber wenn sie noch nicht schlief, mit welcher Unruhe wartete sie dann wohl schon, unfähig, aufzustehen und die saumselige Tochter zu holen, ins Bett zu treiben!

Also schnell! Sie nahm die Lampe, um sie draußen auf dem Vorplatz auszulöschen.

Auf dem Klavier sah sie im Vorbeigehen Noten liegen.

Günthers liegengebliebene Hefte. Sie blieb noch einmal stehen; es zog sie hin, mit der Hand über das Buch zu streichen, aus dem er gesungen hatte, er, der Ernsthafte, Ruhige, der nicht ahnte, wie ihr zu Mute war neben ihm, daß es um sie geschehen war, wenn sie seine goldene Stimme hörte.

Ein neues Frösteln lief ihr über den Rücken hinunter, die Lampe in ihrer Hand klirrte leise. Sie sah auf das Flämmchen, das zu knistern begann, und ging schnell hinaus. Auf dem Flurtisch setzte sie die Lampe nieder und verlöschte sie. Noch immer glänzte im Dunkeln der feine Lichtstreifen unter der Thür. Sacht, wie eine Flocke, glitt Hanna in ihr Zimmer. Der Mondschein leuchtete ihr zu Bett. Die Mutter schlief.

5.

Arnold Rettenbacher saß an seinem Schreibtisch, vielmehr am Schreibtisch des alten Herrn, wie denn überhaupt das Zimmer, dieses größere, zweifenstrige die Studierstube von Hannas Vater gewesen war. Dem Mieter, der ihnen den Zins tragen half, hatten die Frauen dann selbstverständlich dies Zimmer eingeräumt und alle besten Stücke des bescheidenen Hausrats hineingestellt. Arnold hatte seine paar Habseligkeiten mitgebracht. Ein tannenes, braungestrichenes Stehpult, an dem er tagsüber seine Schulsachen erledigte, es stand am zweiten Fenster – und ein ebensolches Bücherregal, vier Fächer hoch, das an der Wand zwischen dem großen, dunkelbunten Sofa und dem Ofen Platz gefunden hatte. Darauf seine „Bibliothek“, ein annoch armes Häuflein Bücher in billigstem Einband. Schulwissenschaftliche Sachen und einige Klassiker in Volksausgaben. Zwei gepolsterte Lehnsessel zu den Seiten des Sofas, die einzigen im Hause, verherrlichten zusammen mit einer von Hanna noch für den Vater gestickten Decke über dem länglichrunden Tisch diese Wohnseite des Zimmers. Gegenüber verdeckte ein großer, grüner Wandschirm der des Nachts zusammengeklappt an der Wand lehnte, die Schlafstubenecke.

Langsam, in der ersten Zeit halb bewußtlos, hatte Rettenbacher sich in diesen Raum hineingelebt. Seit einem Jahr erst etwa, seit er sich aus der gestaltlosen Form des fast allezeit unsichtbaren „Chambregarnisten“ zum Pensionär verdichtet hatte, nach dessen Schulstunden man das Mittagsessen ansetzte, dessen Leiden und Freuden – es gab von den letztern nicht viele – man teilte, dessen scheue Wortkargheit man nicht bekämpft und doch schließlich überwunden hatte, – seit diesem letzten Jahre erst war ihm allmählich das Verständnis für Gemütlichkeitsbedürfnisse aufgegangen. Ohne daß er’s recht wußte, hatte er seine „Bude“ lieben und sich an ihr freuen gelernt.

Daß er sich in der andern Stube, drinnen bei der alten Frau und dem jungen Mädchen, heimisch zu fühlen begann, war ihm schnell zum Bewußtsein gekommen. Ein Träumer in Herzenssachen war er nicht. Er wußte bald und wußte genau, wie ihm geschah. Aber in demselben Augenblick, als er sich darüber klar geworden war, daß er sein glückungewohntes Herz an diese grauen Augen verloren hatte, war auch sein Pflichtgefühl geharnischt aufgestanden und hatte sich mit ausgestreckter Hand vor die Pforte gestellt. Er durfte nicht heiraten! Kein armes Mädchen und kein reiches. Kein armes, weil bei Null zu Null gerechnet Hunger herauskam, und wenn er selbst auch diese schwere und ziemlich undankbare Kunst beizeiten gelernt hatte – seine Frau durfte nicht in diese Schule. Kein reiches, weil Arnold Rettenbacher selbstbezahltes Brot essen mußte, um gesund zu bleiben. Diese Weisheit war schon nicht mehr neu, sie war ungefähr so alt wie sein Herzensverstand, war zusammen mit ihm auf steinigem Boden aufgewachsen, unaufhaltsam, himmelan, der Sonne entgegen. Aber daß sie ihm wehthat, die Weisheit, daß er schwer an ihr trug, das war noch nicht gar lange her, einige Monate erst, und die dünkten ihn länger als die ganze übrige Zeit bis dahin.

Ungern und schwer nur war er heute am späten Abend „ins Geschirr“ gegangen, an die Arbeit, die einen Teil der Samstagnacht zu kosten pflegte.

Die Paulus-Arie lag ihm noch im Blut. Es sang und klang in ihm. Verflogen war der Nebel, der aus Erdmanns trostlosem Geständnis aufgestiegen war und sich wie eine schwere Decke über sie alle hingebreitet hatte. Seine Seele war wieder wach und wund und schrie mit starker Stimme nach Erlösung. Sie rüttelte an den Gitterstäben ihres Käfigs. Warum ihm heute so viel schlimmer, so viel ungebärdiger zu Mute war als sonst – er wußte es nicht. Hatte er das Mädchen gestern, vorgestern nicht so lieb gehabt wie heute? Doch wohl! Aber es war nicht alle Tage Sonnabend. Und nicht alle Sonnabende wehte der Westwind so duftschwer übers Land.

Er schob die lateinischen Extemporalia zusammen, die er zuerst noch hatte erledigen wollen. Es fehlte ihm jetzt durchaus an der nötigen Sammlung. Unthätig, finster stand er dann vor seinem Schreibtisch still, bis ihm das mittlere Fach, das nur angeschoben, nicht geschlossen war, ins Auge fiel. Er zog es weiter auf und nahm die Schachtel heraus, die ihm Hanna heute abend gegeben hatte. Es war ein Schiebkästchen wie man sie in der Apotheke bekommt, in der Mitte der Hülse ein eingeschnittener Schlitz, über dem stand: „Mutters Stuhl“.

Rettenbacher lächelte. „Wenn du wüßtest,“ murmelte er vor sich hin. Er zog dann ein anderes Schubfach auf, in dem stand Kästchen an Kästchen, sehr ähnlich dem in seiner Hand. Eine ganze Reihe. Zwei große, acht kleine. „Vater“, „Mutter“ stand auf den großen. „Grete“, „Liese“, „Meta“, „Ernst“, „Regine“, „Franz“, „Johannes“, „Evchen“ auf den kleinen. Alle sperrten die Mäulchen auf. man sah an den Rändern, sie waren gefüttert worden. Rettenbacher nickte ihnen zu. Er griff dann ganz hinten in das Fach hinein, dort war noch ein Kästchen, ein einzelnes, für sich. „Mutters Stuhl“ stand über dem Schlitz. Er öffnete es und schüttete das Geld, das darin war – etwas große, schon eingewechselte, und viele kleine Münzen – in Hannas Schachtel. Sie war nun voll bis zum Rande. „Wenn du wüßtest,“ murmelte er wieder. „Um ein gutes Drittel billiger hat er ihn dir gelassen, der Biedermann! Du Kind du, wie leicht betrügt man dich!“

Seine leere Schachtel warf er in das Fach zurück, Hannas schwerer gewordene behielt er in der Hand. Mit brennenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_535.jpg&oldid=- (Version vom 30.4.2018)