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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Ja“, sagte Frau Wasenius leise. „Ich wollte eigentlich wirklich bis morgen warten,“ fügte sie zögernd hinzu.

Hanna machte nur eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. „Also, die Fabrik ist doch hin?“ fragte sie dann. „Und alle Aktien wertlos?“

Die Mutter nickte nur.

„Thomas hat gemeldet, daß wir auf nichts mehr zu rechnen haben?“

„Auf gar nichts mehr.“

Hanna wurde sehr blaß und drückte die Zähne auf die Unterlippe, sie sah ein Weilchen starr geradeaus.

„Nun“, sagte sie endlich halblaut, „das ist wenigstens klipp und klar. Nun weiß man doch, woran man ist. Daß es gut ausgehen würde, hat man im stillen ja doch nicht geglaubt. Du wenigstens nicht, armes Herz. Und die Zeit von dem Warnungssignal an war auch nicht beneidenswert schön.“

„Aber was wird nun?“ fragte die Kranke, der plötzlich große Thränen über das Gesicht liefen.

Hanna ließ sich neben dem Bett niedergleiten und nahm die Mutter fest in die Arme. „Mein liebes Mutterchen, fürchte dich nicht so sehr, bat sie mit tiefer, vor Sorge und Zärtlichkeit bebender Stimme. „Es wird schon gehen, es wird schon gehen! Wie denn nicht? Wir schränken uns ein. Ich werd’s schon machen, glaub’ mir. Ich hab’ in diesen letzten Tagen schon allerhand Pläne entworfen, ganz gescheite Pläne. Ich bin nicht müßig gewesen. Weine nur nicht so! Und wie dein armes Herz klopft! Komm, komm, du darfst dich nicht so abängstigen. Denk doch an so manche andre arme Lehrerswitwe, die zu ihren kümmerlichen Einkünften noch eine Schar Kinder hat. Du hast doch wenigstens nur dieses eine, und das ist schon so alt, zu dem darf man gar nicht mehr Kind sagen.

Sie zwang sich zu einem heitren Lachen, es gelang ihr auch ganz leidlich.

Frau Wasenius streichelte ihr die Wange. „Prahlst mit deinen dreiundzwanzig, du armes Ding,“ murmelte sie.

„Es sind ja eigentlich schon viel mehr. Du weißt, Kriegsjahre zählen doppelt. Ich fühl’ mich schon recht erwachsen. Jedenfalls groß genug, um meinem arme Mutterchen hier in diesem Bett jetzt alle unnütze Grämerei zu verbieten. Morgen ist auch noch ein Tag. Heruntergesprochen haben wir’s uns jetzt, das war die Hauptsache. Morgen, wenn die Sonne scheint, wird weiter verhandelt. Da nehmen wir das große Buch und rechnen –“

„Thomas will morgen herkommen,“ unterbrach Frau Wasenius.

„Wozu das noch? Wenn doch alles vorbei ist?“

„Er schreibt sehr liebenswürdig. Der Brief ist in meiner Tasche. Er schreibt, er könne sich als Vaters ehemaliger Schüler nicht damit beruhigen, mir einfach nur Bericht von dem Verlust zu geben. Er stelle sich mir zur Verfügung, um wegen unserer künftigen Lage gründlich Rücksprache zu nehmen. Als Kaufmann könne er uns doch vielleicht den einen oder den andern guten Rat geben. Er bedauert diese ganze Sache sehr. Aber niemand hätte das voraussehen können, sonst hätte er beizeiten gesorgt, die Papiere zu verkaufen.

„Ja ja,“ sagte Hanna. „Aber darüber jetzt noch zu reden, hat doch keinen Zweck mehr. Nützen wird er uns nicht können, glaub’ ich. Deine Pension und die Zinsen von der Lebensversicherung beziehst du nach wie vor, auch ohne ihn. Was ich nebenbei verdiene, ist auch meine und nicht seine Sorge. Kurz, ich weiß nicht – aber einerlei, er meint es jedenfalls gut. Wir werden ja sehen! Eins weiß ich aber ganz gewiß. Nämlich, daß du von Rechts wegen schon lange schlafen solltest, Mutterherz. Du wirst jetzt brav sein, nicht wahr, wenn ich dich sehr, sehr bitte, und die Augen zumachen und bis hundert zählen hin und zurück, wenn’s sein muß, und einschlafen, ja? Willst du einen kalten Umschlag in den Nacken?“

Frau Wasenius schüttelte den Kopf. „Ich will ohne alle Künste zu schlafen versuchen, mein gutes Kind,“ sagte sie zärtlich, „nur dir zuliebe. Aber du mußt dich auch niederlegen.“

„Bald thu ich’s,“ versprach Hanna. „Ich muß mir nur noch geschwind an meinem Kleid etwas flicken. Ich bin auf der Treppe mit dem Fuß in den Saum geraten, weißt du. Das näh’ ich noch und dann geh’ ich schlafen. Gute Nacht! Wenn ich dann hereinkomme, will ich diese kleine Mutter im tiefsten Schlaf vorfinden, verstanden?“

Draußen auf dem dunklen’ Vorplatz blieb Hanna einen Augenblick stehen. Sie drückte die gefalteten Hände an den Mund und atmete tief. Drinnen bei der Mutter der herzkranken, hatte sie nicht schwach und weichmütig sein dürfen, keinen Augenblick lang. Aber jetzt überkam es sie, stieg ihr heiß und beklemmend in die Kehle hinauf. Aber sie weinte nicht, sie schluckte tapfer und hielt die Augen weit offen.

Und mit diesen weitoffenen Augen sah sie den feinen Lichtstreifen, der unten an Rettenbachers Thür entlang schien.

Er saß also noch bei der Arbeit.

Sie nickte dem zarten Scheinchen zu. „Guter, Fleißiger,“ hauchte sie. Die augenlose Dunkelheit, die sie umgab, sah nichts von ihrem unbewachten Gesicht. Nach einem tiefen Atemzug schlich sie leise vorbei ins Wohnzimmer daneben. Dort fühlte sie sich um den Tisch herum zu ihrem Schreibtisch, zündete ihre kleine Arbeitslampe an und setzte sich. Es war aber keine Näherei, die sie vornahm. Sie zog ihre Rechnungsbücher aus dem Fach und begann zu rechnen. Vielmehr sie fuhr fort. Sie hatte ja schon angefangen in diesen letzten Tagen, heimlich, in Absätzen – es blieb nicht mehr viel zusammenzuzählen. Hanna starrte auf die kleinen Ziffernreihen das Hauptexempel war sehr einfach zehn minus fünf bleibt fünf. Die Hälfte. Und mit dieser Hälfte konnten sie nicht hier bleiben, nicht hier weiter leben. Das Ganze hatte ja so nur kümmerlich gereicht. War mit allerlei Künsten in die Länge gezogen worden. Sie hatte ihre stille Freude an diesen Künsten gehabt, hatte sie mit der Zeit immer mehr ausgebildet, hatte der kranken Mutter sacht ein Fädchen nach dem andern aus der Hand gezogen, bis sie das ganze Bündel zwischen ihren jungen Fingern hielt. Es war ein Webstück daraus geworden, das sich hätte sehen lasse können, wenn die Weberin gewollt hätte. Sie wollte aber nicht. Sie wollte nichts, als die Mutter sorgenlos wissen. Sie wollte nichts, als den unruhig flatternden Schlag dieses armen Herzens besänftigen. Sie wollte Sonnenschein über dem müden, blassen Gesicht. Und es war ihr auch gelungen. Bis heute. Nein, bis vor acht Tagen. Bis der Brief kam mit der Vorbereitung auf den Schlag. Und sie hatte noch gehofft, es werde nur blinder Alarm gewesen sein. Sie hatte es sogar fertig gebracht, die tödlich erschrockene Mutter wieder zur Ruhe zu reden. An dem Schlag, den ihr vorhin die unwiderrufliche Nachricht gegeben hatte, war ihr bewußt geworden, wie fest doch noch ihre Hoffnung auf einen tröstlichen Ausgang gewesen war.

Nun also nicht mehr rückwärts gesehen auch nicht rechts, noch links, nur vorwärts, ins Neue, ins Notwendige! Also fort aus der Wohnung, aus Berlin, in einen billigen Vorort, in den billigsten!

Fort aus der Wohnung.

Aus diesem Haus, in das die Eltern geheiratet hatten vor sechsundzwanzig Jahren, wo sie zur Welt gekommen war, wo sie ihre glückselige Kindheit verlebt hatte, mit der noch gesunden, noch fröhlichen Mutter, wo alsdann auch das schwarze Gewölk der Sorge und Aengste mit dem beginnenden Herzleiden der Vielgeliebten seinen Einzug gehalten hatten wo der Vater, der angebetete gestorben war – nein, nicht gestorben, nur als ein stiller verstummter Mann gelegen hatte, noch drei Tage lang, nachdem man ihn von der Straße hereingebracht hatte, vom Schlag getroffen, die Treppe hinauf, seiner Frau entgegen, der Ahnungslosen, die ausgehen wollte, und die nun rücklings niederstürzte mit einem Schrei, und erst nach vielen Stunden erwachte, gelähmt von den Hüfte an, für Lebenszeit!

Hanna rührte sich auf ihrem Stuhl; die Starrheit, in der sie gesessen hatte, löste sich. Wie geschah ihr denn? Das war ja rückwärts gedacht, nur rückwärts! Das wollte sie ja nicht. Das durfte sie ja nicht. Sie strich sich das Haar aus der Stirn und wendete sich zur Seite. Ihr Blick fiel auf das Fenster, zu dem die sternklare Nacht hereinschaute, und auf die leere Stelle, wo am Tage der Sessel mit der Mutter stand. In dem matt erleuchteten Zimmer gähnte der unbewohnte Fleck wie ein Loch. Ein schwerer heißer Schrecken fiel ihr aufs Herz. Der Stuhl, der schöne, teure Krankenstuhl, der langsam, mühsam ersparte! Mit der Freude, die die Mutter darüber haben sollte, war’s nun

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_534.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)