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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

wilden Rosenstrauches, das noch halb unter dem Ueberhang des Lindengezweigs einen Stein völlig verdeckt gehalten. Nun stand er entblößt da, in der über die Bergwand blickende Morgensonne eine Inschrift zeigend, die Alban noch nie gesehen. Und er las:

„Gerlind Toralt
geb. am 6. Juli 1832, gest. am 10. Juni 1850.“

Ein paar Stunden vergingen, dann suchte Alban Hartlaub den Mann auf, der im Dorf die Totengräberarbeit versah. Doch er fand einen noch jungen, erst seit einigen Jahren damit betrauten Knecht, der über die nicht von ihm hergestellten Gräber keine Auskunft zu geben wußte. Schlaflos brachte Alban die folgende Nacht zu, nur gegen Morgen übermannte ihn ein verworrener Halbtraum, in dem er den Stein vor sich sah und in dem er sich immer wieder sagte, seine Augen seien halb erblindet, daß er nicht zu lesen vermöge, denn hinter dem Namen Gerlind müsse ein anderer als Toralt auf dem weißen Marmortäfelchen stehen. Dann ward er wach, kleidete sich hastig an und ging das Thal nach Süden hinab, den weißen Alpenfirnen entgegen. Und am folgenden Tage durchschritt er die Straßen unter dem hohen Turm der Kirche, deren Zugang sich ihm einst rettend aufgethan.

Wie damals war er fremd in der Stadt, kannte niemand drin als vielleicht einen einzigen ihrer Bewohner, dessen Name ihm obendrein im Gedächtnis entschlummert war. Doch wachte derselbe ihm auf, als er sich die Aerzte des Ortes nennen ließ, und bald klopfte er an die Thür des so ausfindig Gemachten. Eintretend, erkannte er ihn nicht wieder und ward von ihm gleichfalls nicht wiedererkannt. Ein sich den Fünfzigern nähernder Mann war’s, der den Ankömmling für einen Patienten ansah und fragte, welches Uebel ihn herführe. Es dauerte eine Weile, ehe er auf Albans Antwort, in seiner Erinnerung suchend, noch halb ungewiß erwiderte. „Ja, bei dem Alten droben auf dem Turm – und nachher in der Nacht am Grenzhaus – die beiden Frauen mit dem Wäschekorb – ich hatte einen Stachel mitgenommen, mit dem ich mein Pferd unvermerkt wild machte – waren Sie der Flüchtling? Mein Gott, welche Zeit ist darüber vergangen! Ja, ja, nun kommen Sie mir bekannt vor – aber bei meinem Geschäft sieht man so viele Gesichter – es freut mich, daß Sie bei mir vorsprechen – Alban entgegnete: „Sie erwiesen sich mir damals so hilfreich und sagten, als wir uns trennten: auf ein Wiedersehen im Leben und im deutschen Land!“

„Ja, gewiß –“, der Antwortende entsann sich dessen wohl nicht, doch bestätigte er es aus Höflichkeit und lud den Besucher artig zum Platznehmen ein. Das Gespräch ergab, er sei ein vielbeschäftigter Arzt, verheiratet und Vater einer Anzahl schon halb herangewachsener Kinder. „Haben Sie auch Kinder?“ fragte er.

Alban verneinte kurz; er sei unverheiratet; es drängte ihn, auf seinen damaligen Beschützer, den Turmwart, die Rede zu bringen. Der wäre kränklich geworden und seit langem gestorben; ein Kummer, der Gram um seine Tochter, hätte zuletzt sein Leiden beschleunigt. Auf eine Aeußerung des Zuhörers, er erinnere sich, sie sei verlobt und ihre Hochzeit festgesetzt gewesen, erwiderte der Arzt. „Ja, das war eine merkwürdige Sache. Sie rufen es mir ins Gedächtnis. Ihr Bräutigam war hier bei der Polizei – das machte Ihren Aufenthalt damals auf dem Turm etwas gefährlich – übrigens sonst ein braver und hübscher junger Mensch, an dem sich weiter nichts aussetzen ließ. Sie sagten ganz recht, die Hochzeit sollte sein. Der Alte war wegen seiner Gesundheit besorgt, das junge Ding nicht allein in der Welt zurückzulassen, und sie hatte ihren Bräutigam auch gern. Ich bin nicht dahinter gekommen, was nachher zwischen sie geraten ist, aber es muß etwas gewesen sein, denn es ward nichts aus der Heirat und jedenfalls ging die Lösung von ihr aus. Er kam an freien Tagen wie früher auf den Turm, aber sie schob die Hochzeit immer hinaus, vielleicht, daß sie gefühlt hat, wie ihre Gesundheit nachließ. Ich mußte den Vater öfter besuchen, und schon im Anfang vom Winter gefiel sie mir auch nicht so recht, war nicht mehr heiter wie sonst, sondern still und blaß. Sie hustete nicht, aber so im Februar oder März wird’s gewesen sein, daß mir doch klar wurde, was es mit ihr auf sich habe. Der ewige Zug und Wind da oben war jetzt gefährlich für sie, viel Hoffnung blieb mir nicht mehr, aber einen Versuch mußte man doch machen; so schickte ich sie zum Frühling in ein für ihren Zustand besonders gut gelegenes Schwarzwaldthal, wo noch Verwandte von ihrer Mutter lebten, bei denen sie gute Unterkunft fand. Doch das Leiden steckte zu tief in ihr, ich habe gehört, daß sie dort nach einigen Monaten gestorben ist. Ein nettes Geschöpfchen war’s, ohne daß sie eigentlich etwas gelernt hatte, von feinerer Art als die meisten jungen Bildungsdamen; ich glaube, unter besseren Umständen hätte etwas Besonderes aus ihr werden können. Schade! Sie haben sie ja auch gekannt, freilich zu kurz, um sie kennenzulernen und meine Meinung von ihr zu begreifen. Aber nun erzählen Sie mir von sich, wie es Ihnen nach der Nacht, in der ich Ihnen keinen Gruß mehr zurufen konnte, in der Fremde ergangen. Mir wacht’s wieder auf, eine recht stürmische Nacht war’s, die Ihnen zu gute kam.“

*  *  *

Alban Hartlaub hat in der Stadt noch den Kirchturm bestiegen, doch an der Wohnung des fremden Türmers ging er vorüber; er wandte sich gleich zum Glockenraum hinauf, in dem er eine Zeit lang sich aufhielt – dann ist er in seine stille Gebirgswelt zurückgekehrt.

Hier suchte er gleich nach seiner Heimkunft die Leute ausfindig zu machen, bei denen Gerlind Toralt ihre letzten Lebensmonate zugebracht hatte, und es gelang ihm. Der Mann war gestorben, doch die alte Frau lebte noch, und er teilte ihr mit, daß er zufällig auf dem Grabstein den Namen des Mädchens gelesen habe, dem er vor Jahren einmal für ihm geleisteten Beistand zu Dank verpflichtet worden sei. Das ließe ihn sich nach ihrer letzten Zeit und ihrem Tode erkundigen.

Mit der Redseligkeit des Greisenalters gab die Befragte ihm Auskunft; in ihrem ereignislosen Leben war’s das Besonderste gewesen. Sie nannte die Verstorbene, zu der sie nur in weitläufigster Verwandtschaft gestanden, mit dem alten, unter den Lebenden sonst beinahe völlig abhanden gekommenen Wort für „Geschwisterkind“ ihre „Nistel“, aber zugleich sprach sie von ihr auch mit einer gewissen Scheu, sie sei so fremdartig zart gewesen und es immer mehr geworden, je näher sie dem Tod kam. Geklagt hätt’ sie nie und am liebsten unter der Linde auf dem Kirchhof gesessen und in einem kleinen Buch, das sie mit hergebracht, gelesen. Wie die Flamme von einem ganz herunterbrennenden Kerzenlicht wär’ sie ausgegangen, zuletzt nur ein kleines Flämmchen noch, das hätte der Tod wie ein leiser Windzug weggeblasen. Aber am letzten Tag davor war sie im Kopf nicht mehr ganz recht geworden und hatte gebeten, man sollt’ ihr eine Bleikugel, das Buch und ein Kopftuch, das sie immer, um sich nicht zu erkälten, um den Hals gebunden gehabt, mit in den Sarg legen. Die Alte weinte beim Erzählen. „An der Kugel, dran lag ja nichts und das haben wir gethan, aber um das Buch und das Tuch wär’s doch schad’ gewesen, sie hätt’ ja doch nichts mehr davon gehabt.“

„So habt Ihr’s noch?“ fiel Alban mit halb versagender Stimme ein. Die Greisin stand auf, humpelte an einen Kasten und kam mit den beiden Dingen zurück. „Dadrin hat’s seit ihrem Sterbetag gelegen.“

Er nahm seine Börse und legte ihr eine Geldsumme in die Hand. Dazu sagte er: „Ich konnte damals dem Mädchen den Dank, den ich ihr schuldig war, nicht abtragen, so laßt’s mich heut’ bei Euch thun. Wenn Ihr mir die beiden Sachen dafür geben wollt – Ihr lest doch wohl nicht in dem Buch?“

Das überhaupt zu können, hatte die Alte allerdings nicht gelernt, und freudig händigte sie ihm für seine Freigebigkeit das Verlangte ein. Er kehrte damit in seine Behausung zurück. Eichendorffs Gedichte waren es, wie er sie aufschlug, sah er eine Anzahl von ihnen mit Bleistiftstrichen am Rand angezeichnet, alle die, welche er droben in der Turmstube vorgelesen. Ueber dem Gedicht. „Es zog eine Hochzeit den Berg entlang“, befanden sich zwei Striche, und die Seite ließ erkennen, daß sie am häufigsten aufgeschlagen worden sei. Auf ihr lag getrocknet ein Blättchen von einer wilden Rose mit noch leis rötlichem Schimmer, und verwischte Spuren wie von etwas Feuchtem zeigten sich auf dem Papier.

Alban hörte im Geiste seine Stimme wieder das Gedicht lesen, und er sah, wie er geendigt, Gerlind Toralt mit den auf den Schoß herabgesunkenen Händen vor sich sitzen, reglos ins Weite hinausblickend, mit ihren Augen, deren leuchtender Edelsteinglanz

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