Seite:Die Gartenlaube (1897) 483.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Euch zu arg? Ich will Euch Watte ins Ohr thun, das macht’s weniger schlimm.“

Doch er faßte sie an der Hand und hielt sie vom Weggehen ab. „Nein – die Glocken sind seit gestern meine Freunde, ich höre sie gern einmal singen.“

„So setzt Euch zum Frühstück, es hat schon auf Euch gewartet und wird sonst kalt.“

Nun saß er am Tisch, und das Wogen der Glockentöne ging über ihm weiter, doch ihm war’s, als ob ihre Schwingungen sich auch in ihn selbst hinein fortsetzten. Er fühlte sich wie leise von Wellen gewiegt, und schöne Wellen der Empfindung durchfluteten ihn. Dabei dachte er über Gerlind nach.

Er war Philologe, und wenn er dies Studium auch nicht mit der Absicht gewählt, den Lehrerberuf einzuschlagen, so hatte er doch eine Vorlesung über Pädagogik hören müssen, und davon her mußte wohl unbewußt etwas in ihm haften geblieben sein, das sich gegenwärtig geltend machte. Seine Augen sahen zu, wie die schlanken Hände Gerlinds ihm aus der buntgeblümten Kanne in die Tasse einschenkten, danach von dem Brotlaib ein Stück für ihn abschnitten, aber seine Gedanken beschäftigten sich wunderlich mit pädagogischen Betrachtungen. Die gingen ihm von der Frage aus. Was war eigentlich Bildung, oder vielmehr, welcher Wert wohnt dem inne, was man gewöhnlich so nennt? Die Tochter des alten Türmers neben ihm am Tisch gab darauf eine eigentümliche Antwort. Was sie in der Bürgermädchenschule gelernt, was der Umgang mit dem Vater, ihre paar Bücher ihr zugetragen, reichte zweifellos nicht hin, sie im gewöhnlichen Sinne gebildet zu heißen. Doch dem jungen Philologen kam jetzt die Erkenntnis, das und anderes Erlernte mache doch nicht die wirkliche Bildung aus. Das Beste, einzig in Wahrheit wertvolle konnte überhaupt nicht erlernt werden, sondern war Mitgift der Natur, die Art des Gemütes, die Anmut und Aufnahmefähigkeit des Geistes. Wo die sich fanden, war der Keim vorhanden, den sorgliche Pflege zur Blüte echtester, schönster Bildung entwickeln konnte.

„Warum seid Ihr so still?“ fragte Gerlind. „Es wird Euch wohl zu lang’ hier und Ihr seid mit Euren Gedanken schon über der Grenze?“

Alban sah ihr, noch etwas abwesend, ins Gesicht.

Nachdenklich fuhr sie fort. „Aus dem Fenster könnt Ihr wenigstens nach Eurem Ziel hinüberschauen, daran müßt Ihr Euch noch genügen lassen. Und schön ist doch auch dieser Ausblick?“

Sie war aufgestanden, trat ans Fenster und deutete in die sonnenbeglänzte Weite.

Er folgte ihr und gab zurück: „Ja, es ist schön, hier zu stehen.“ Er machte dabei mit dem verwundeten Arm eine kurze Bewegung, als wollte er ihn emporheben, mußte ihn aber vor Schmerz wieder sinken lassen.

Das Mädchen wies nach einem über die letzten Häuser der Stadt hin auf dem Feld groß aufragenden grünen Fleck. „Ist das nicht eine Linde?“

Das Wort gemahnte ihn an des Mädchens Kosename und er entgegnete lächelnd: „Ja, Linde.“ Dann setzte er hinzu: „Da du nie ins Freie kommst, woran erkennst du sie?“

„Drunten auf dem Stadtplatze steht eine, wir haben einmal unter ihr gesessen, der sieht die da drüben gleich. Aber unter der da draußen müßte sich’s noch ganz anders ruhen. Und dann weiter zu gehen, dort am hellen Wasser hin, durch die Felder, wenn das Korn wie Gold auszusehen anfängt, das wär’ eine Lust! Stehen dann nicht auch Blumen drin?“

„Ja, schöne – rote und blaue … so blau wie deine Augen, Linde. Vielleicht – gewiß – wirst du sie auch noch einmal sehen, noch oft. Doch was ist dir?“

Gerlind hatte das Haupt horchend erhoben. Ihr geübtes und sich anspannendes Ohr vernahm etwas, wovon er nichts hörte, sie brach rasch ab. „Da kommen Schritte herauf – es wird wohl der Vater sein – aber es könnte – bergt Euch schnell dahinein!“

Sie zog ihn eilig am Arm in ihre Kammer, schloß zurücktretend die Thür ab und verwahrte den Schlüssel in ihrer Kleidertasche. Alban stand eine Minute lang, ohne einen Gedanken fassen zu können, er fühlte nur das heftige Klopfen seines Herzens. Dann klang im Nebengemach die Stimme Toralts, der eine fremde antwortete, die Thür ward wieder aufgeschlossen und das Mädchen sagte: „Kommt, es ist der Herr Doktor.“

Dem der Aufforderung Folgenden streckte ein junger Mann die Hand entgegen. „Sie können mir ruhig vertrauen, ich trage das schwarz-rot-goldene Band unter den Kleidern auf der Brust, sonst hätte Ihr Gastfreund mich nicht heraufgeholt. Nun wollen wir nachsehen, wo die Kugel der heiligen Staatsordnung steckt. Ich habe das schöne Wort eben drunten gehört, darum liegt’s mir noch im Munde.

Er legte seine Verbandtasche auf den Tisch und nahm chirurgische Geräte aus ihr hervor.

Der Türmer erläuterte währenddessen: „Wir sind ein paar Minuten in der Kirche stehen geblieben und haben der Predigt zugehört. Der Pastor redete von der Ruchlosigkeit solcher, die sich, mit dem Teufel verbunden, gegen Thron und Altar auflehnen, und beschwor zeitliche und ewige Verdammnis herab auf die Verbrecher an der von Gott gesetzten heiligen Ordnung des Staates und alle, die vom Wege der Pflicht abirrend ihnen Beihilfe gewähren! Eine Predigt der christlichen Nächstenliebe war’s, man kam im Vorbeigehen kaum los davon.“

Um die sonst stets ruhig gleichmütigen Lippen des Alten schnitt sich beim letzten Worte ein halb spöttischer, halb bitterer Zug ein, sich zu dem Mädchen kehrend, fügte er jetzt nach: „Geh’ du solange auf den Umlauf hinaus.“

Sie fragte: „Warum soll ich fort? Glaubst du, ich fürchte mich und kann’s nicht mit ansehen?“ Ein Klang von Bekümmernis lag darin, sichtlich widerstrebte es ihr, die Stube zu verlassen.

Der junge Arzt hatte Alban geholfen, den Kittel abzulegen, und drehte sich gegen Toralt. „Ich seh’s schon, mehr braucht’s nicht; lassen Sie Ihre Tochter nur hier bleiben. Sie kann sich als Assistentin nützlich machen, ihre Finger flößen mir Vertrauen ein. Uebrigens scheint’s, daß die Sache ohne viel Schwierigkeit abgeht, die Kugel muß schon ziemlich flugmüde gewesen sein und nur noch gerad’ Kraft gehabt haben, durchs Zeug zu schlagen. Man sieht’s an dem Loch, das sie in die Leinwand gerissen, freilich weniger Schmerz macht ihr Anklopfen drum nicht. Bitte, eine Schale mit Wasser, Jungfer Assistentin, und ein Handtuch, einen neuen Schwamm habe ich selbst mitgenommen.“

Beglückt flog das Mädchen nach dem kleinen Küchenraum und kam mit dem Verlangten zurück. Das Hemd Albans zeigte unweit über dem Eckbogen eine Durchlöcherung, es war zur Vornahme der Operation kein weiteres Kleiderabthun nötig, als den Aermel bis zur Schulter hinaufzustreifen. Die Wunde wies keine scharfen Ränder, hart über ihr wölbte sich die Haut etwas vor und die Untersuchung ergab rasch, daß die ermattet angekommene Kugel dort sitzen geblieben, also nicht bis zum Knochen gedrungen war. Der Arzt sagte, nach seinem Messer fassend: „Sie haben den Arm gerade aufgehoben gehabt, wie das Ding herangeschnurrt ist; es hat sich mehr hineingequetscht, als gebohrt, und die Blutung ist nur schwach gewesen. Ein bißchen Blut muß dafür jetzt noch fließen, hoffentlich das letzte für die verlorene Sache. Wollen Sie es“ – er wandte sich an Gerlind – „mit dem Schwamm wegtrocknen, wenn ich das Messer fortziehe. Nun, ein bißchen spüren werden Sie’s natürlich auch. Denken Sie an etwas, was Ihnen lieb ist, das hilft am leichtesten drüber weg.“

Noch während er das letzte sprach, spaltete er mit einem kräftigen Einschnitt geschickt die Haut oberhalb der Wunde, das Mädchen hielt in der Rechten den angefeuchteten Schwamm bereit, doch griff es jetzt hurtig auch mit der linken Hand zu, denn Alban hatte unwillkürlich eine leicht zuckende Bewegung gemacht, die den aufgestreiften Hemdärmel von der Schulter herabgleiten zu lassen drohte. So hielt sie diesen fest, während sie mit der andern Hand ihrer Aufgabe nachkam, behutsam das quellende Blut fortzutupfen. Mit leiser Stimme und bedrücktem Ton fragte sie dazu: „Thut’s sehr weh?“

Alban wollte erwidern, doch er brachte das Wort nicht heraus, schüttelte nur den Kopf. Sein Körper hatte bei dem Schnitt gezuckt, doch er fühlte keinen Schmerz, nur etwas anderes und das allein die warmen Fingerspitzen, die beim Festhalten des Aermels leicht seinen bloßen Arm berührten. Ihr leises Zittern sagte, Gerlind empfinde den Schmerz, von dem sie glaubte, daß er ihn fühlen müsse.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_483.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)