Seite:Die Gartenlaube (1897) 472.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Wohnung da auf und suchte für den neu zu gründenden Hausstand ein schöneres Heim, größer, geräumiger … Vielleicht in der Nähe der Grossachstraße … Am hübschesten wär’ es ja freilich gewesen, der Schwiegersohn hätte gleich mit einziehen können in das trauliche Landhaus des Schwiegervaters. Aber das war wohl zu eng – und man konnte nicht wissen, ob sich der Vater nicht doch in seinen Gewohnheiten etwas beeinträchtigt fühlte, wenn da ein junges Paar ihm sozusagen über den Kopf wuchs.

Hildegard malte sich jetzt zum hundertstenmal ihre häusliche Einrichtung und die zukünftige Lebensführung mit den verlockendsten Farben aus. Besonders lebhaft schwebten ihr die behaglichen Sonntage im Winter vor, und wie es dann sein würde, wenn ihr vielteurer Vater bei ihnen zu Gast wäre und mit Gustav seine Partie Schach spielte, während sie selbst mit ihrem kleinen zierlichen Spinnrocken dabei säße und bald auf die Wechselfälle des Spiels achtete, bald auf die klugen, herzlieben Spieler. Im hochsimsigen Kachelofen würden dann die Buchenholzklötze traulich knistern und knattern, während sich draußen der Schnee in sanftwiegenden Flocken über die Dächer und Gassen legte.

Von diesen Bildern erfüllt, hatte sie ihren Schritt auffällig verlangsamt. Nun fiel ihr bei, irgend wer möchte dies schwärmerische Hinaufblinzeln nach den Fenstern des jungen Arztes beobachten und daraus seine Schlüsse ziehen. Heimlich schalt sie sich ungehorsam und unvorsichtig. Gustav Ambrosius hatte doch seine gewichtigen Gründe …

Den Kopf wendend, ließ sie den Blick ein wenig über den Markt schweifen, der ziemlich unbelebt in der Sonne lag. Die Höker und Landleute, die hier im Sommer bis acht Uhr früh ihre Waren feilboten, hatten sich längst entfernt. Am Röhrbrunnen standen etliche Bürgermädchen und füllten die großen messingbeschlagenen Zuber, die sie nach alter Glaustädter Art frei auf dem Kopf trugen. Dort und da ging ein Zünftler oder ein Karrenschieber, der sein plumprädriges Fuhrwerk langsam über das Pflaster rollte. All diese Leute hatten sich um Hildegards träumendes Ausschauen, das heute in der That ein wenig an Selbstverrat grenzte, offenbar nicht gekümmert. Nur ein kleiner geschmeidiger Mensch in rostbrauner Handwerkertracht, der jetzt unweit der wasserholenden Jungfern am Röhrbrunnen stand, schien ihr eine versteckte Aufmerksamkeit zu widmen. Er gaffte sie an, wie ein bewundernder Kavalier, kehrte jedoch sofort den Blick wieder ab und trat zu dem Röhrbrunnen, um wie gedankenverloren in die ewig erneuten Kreise des Beckens zu starren.

Hildegard war dergleichen gewöhnt. Dieser rostbraune Bursch da – augenscheinlich ein Werkstattgehilfe – wußte wohl kaum, wer sie war. Ohne eitel zu sein, hatte sie doch die Erfahrung gemacht, daß sie auf hoch und niedrig leicht den Eindruck einer gewissen Fremdartigkeit und Vornehmheit machte. Du lieber Himmel! Wenn man jung war und von schlanker Gestalt und sich zu kleiden verstand, einfach und doch nicht ärmlich – da war das am Ende kein Wunder! Jetzt zumal, wo sie gewiß nicht menschenfeindlich und freudlos dreinsah!

Eiliger als bisher schritt sie weiter. Beim Einbiegen in den Klottheimer Weg begegnete ihr der blondbärtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, der sie ehrfurchtsvoll grüßte.

Ob das wohl auch etwas werden würde mit dem und der hübschen, lustigen Margret? – Die Tochter des Stadtpfarrers – das wußte Hildegard von ihr selbst – war Herrn Woldemar Eimbeck herzlich gewogen. Er aber schien seit einiger Zeit kühler, gedankenvoller, zerstreuter als sonst. Vielleicht ging ihm die Sache doch nicht so tief, wie Margret Melchers gehofft hatte! Obschon er ja ganz gewiß nicht zu den abscheulichen Flatterhaften gehörte, die heut’ die Susanne lieben und morgen die Hanne. Hildegard Leuthold in ihrem tiefen und reinen Glück hätte so gern auch die niedliche Margret am Ziel ihrer Wünsche gewußt. Seit sie mit Gustav Ambrosius eins war, schien es ihr überhaupt ungerecht, daß nicht die ganze Welt einer so himmlischen Seelenfreude teilhaftig wurde.

An der Ecke des Klottheimer Weges und des Neuplatzes betrat sie die flämische Weberei von Thormissen. Sie hatte hier vor etlichen Monaten selbstgesponnenes Garn abgeliefert und fragte jetzt nach, ob das bestellte Tafeltuch, mit dem sie den Vater schon zum Geburtstagsfest überraschen wollte, jetzt endlich vom Webstuhl gekommen sei. Der Weber entschuldigte sich mit dem unerwarteten Abspringen dreier Gehilfen bei längst schon vorliegenden älteren Anforderungen, verhieß aber nun baldigste Fertigstellung und zeigte dem Fräulein dann mehrere neue Muster, auf deren Erfindung der fleißige und talentvolle Mann sich etwas zu gute that. Hildegard lobte die Muster, sprach im geheimen Hinblick auf ihre Heirat die Hoffnung aus, dem Webermeister demnächst einen größeren Auftrag erteilen zu können, und wandte sich dann zum Gehen. Thormissen gab ihr mit vielen Beteuerungen seiner Dienstwilligkeit das Geleit bis auf die Straße.

Beim Heraustreten prallte sie mit dem kleinen geschmeidigen Menschen in rostbrauner Handwerkertracht zusammen, der sie vorhin schon am Markt so merkwürdig – halb scheu, halb zudringlich – angestiert hatte. Daß der seltsame Mensch ihr nun bis an die Weberei gefolgt war, schien ihr schon etwas befremdlicher als das neugierige Gaffen vom Röhrbrunnen her. Immerhin maß sie der Angelegenheit keinen Wert bei. Der Mann entschuldigte sich und lächelte beinahe verschämt, wie ein ertappter Nachläufer, wenn er den Gegenstand seiner Sehnsucht plötzlich aus nächster Nähe zu schauen bekommt. Dann schritt er gemächlich weiter, während Hildegard Leuthold rasch und ohne sich umzusehen über den Platz eilte. Sie war viel zu sehr mit ihren goldrosigen Zukunftsbildern beschäftigt, als daß sie Zeit gehabt hätte, sich um einen so unbedeutenden Zwischenfall den Kopf zu zerbrechen. Sie hatte nicht wahrgenommen, daß der rostbraun Gekleidete sie bereits von ihrer Wohnung an heimlich verfolgt hatte. Noch weniger ahnte sie, daß dieser Mensch ein Späher des Malefikantengerichts, ein Spion vom Geheimdienst war. Fünfzig Schritt hinter dem kleinen Kerl ging ein langbeiniger, großer. Beide waren von Doktor Adam Xylander bevollmächtigt, Hildegard Leuthold unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln festzunehmen und nach dem Stockhaus zu bringen.

Jenseit des Neuplatzes that sich ein enges Gewirre von Gassen und Gäßchen auf. Zuletzt führte die schmale Weylgasse bis an die Stadtmauer. Hier wohnten fast nur Leute von ganz dürftiger Lebensstellung. Flickschuster und Packträger, arme Wäscherinnen und Nähfrauen, die gegen Kost und etliche Heller bar in die Bürgerfamilien auf Arbeit gingen, Strohflechter und kleine Korbmacher. Die Häuser in dieser Gasse waren zum Teil Hütten. Besonders die in der Nähe des Stadtwalls. Hildegard Leuthold hatte hier einige Pfleglinge wohnen, denen sie ab und zu nicht nur Geld und leibliche Nahrung, sondern auch Trost und menschenfreundliche Teilnahme zutrug.

Da war zunächst ein altes Mütterchen, halb schon erblindet und vollständig verarmt, das ehedem bessere Tage geschaut hatte, jetzt aber mit dem gelähmten Sohn traurig und hilflos zwischen den Kalkwänden eines vermorschenden Kuhstalls hauste.

Hildegard pochte wider die wacklige Tannenholzthür und trat auf den lauten Anruf des Sohnes grüßend herein. Das Mütterchen, das gerade am Herd stand, um eine Suppe zu kochen, wischte sich die runzligen Hände eilfertig an dem geflickten Vortuch ab und ging der Besucherin freudig entgegen.

„Gott sei gelobt, daß Ihr kommt!“ stammelte sie mit zahnlosen Kiefern. „All die Zeit her hab’ ich an Euch gedacht, wie voll Heimweh. Und auch Ephraim hat solche Sehnsucht nach Euch gehabt! Es will und will ja nicht besser werden, das klag’ ich dem lieben Gott. Aber wenn Ihr Euch zeigt, mein gütiges Fräulein, dann ist’s doch wie ein Sonnenstrahl, und wir tragen dann leichter. Nicht wahr, Ephraim?“

Hildegard strich der alten Frau liebreich über die sorgengefurchte Stirn und wandte sich dann mit bestrickender Herzlichkeit zu dem Gelähmten, der, eine halbfertige Strohmatte auf dem Schoß, wie heilverlangend zu ihr emporsah.

„Habt Ihr’s nicht wieder einmal versucht, Ephraim? Der Wille vermag viel ….“

„Bei mir nicht,“ lächelte Ephraim trübselig. „Das hält mich wie Blei. Wenn nicht die Nachbarsleute mit angriffen, könnt’ ich hier in dem Stuhl übernachten.“

„Ihr solltet vielleicht, trotz der argen Erfahrungen, die Ihr gemacht habt, doch noch einmal einen Arzt fragen.“

„Die Aerzte sind für die Reichen. Ihr wißt nicht, wie sie mir damals den letzten Sparpfennig abgeluxt haben, der Arzt und der Apotheker. Und hinterher war alles umsonst, und die Lähmung ist schlimmer geworden!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_472.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)