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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

vernahm Alban Hartlaub das Geschrei. Im ersten Augenblick war’s ihm gewesen, als käme seitwärts her ein sich schnell im Dunkel verlierender Lichtschimmer vom Boden herauf, aber nur die Erregung seiner Sinne mußte es ihm vorgetäuscht haben. Das Herz hämmerte an seine Brustwandung; was eigentlich geschehen sei, kam ihm noch nicht zum Verständnis. Halb bewußtlos stand er in der schwarzen Lichtlosigkeit, ihm war’s, als sei er noch im Wald und habe geträumt, daß er, verfolgt, von einer Hand gefaßt und fortgezogen werde. Nun war er aufgewacht und befand sich in der nächtigen Waldeinsamkeit allein, ein Schauer überlief ihm den Rücken.

Doch da kam warm die Hand zurück, die aus der seinigen verschwunden war, faßte diese wieder, und eine flüsternde Stimme klang. „Ich habe meine Laterne, mit der ich mir sonst hinaufleuchte, ausgelöscht, damit sie von draußen keinen Schein sehen. Aber ich brauche sie nicht, haltet meine Hand, ich führe Euch, daß Ihr gegen nichts anstoßt.

Einige Dutzende von Schritten ging’s über hallenden Steinboden, dann tönte die Stimme wieder flüsternd, ganz leise: „Hier fängt die Treppe an und muß ich Euch loslassen, weil ich sonst das Bier für den Vater verschütte. Haltet Euch links am Seil und geht langsam, Ihr werdet’s nicht gewohnt sein.“

Eigentümlich war’s, in einem engen Stiegenhaus, dessen Wände zu beiden Seiten die Arme streiften, ging es steinerne, ausgeschürfte, steile und kurze Stufen hinan. Doch Alban dachte kaum über das Absonderliche des Gebäudes, in dem er sich befand, nach. Er folgte seiner vor ihm aufsteigenden Führerin, die er nicht sah, auch ihren leichten Fußtritt vernahm er nur beim Anhalten, doch ein leises Geräusch ihres die Wand berührenden Kleides sagte ihm, sie sei da. Es konnte kein Zweifel sein, sie hatte ihn vor der sicheren Ueberwältigung draußen gerettet, brachte ihn irgendwohin, um ihm weiter behilflich zu sein. Warum, ließ sich nicht begreifen, denn er war ihr wildfremd. Aber sein Herz war von warmem Dank für sie durchdrungen und ein Verlangen ward in ihm wach, sie sehen zu können.

Die Treppe hob sich in enger Windung weiter und weiter, allmählich befremdete ihn doch ihre Höhe. Er mußte schon mehr als hundert Stufen gestiegen sein , ihm zur Rechten that sich einmal eine schmale, scheibenlose Fensteröffnung auf, durch sie sah er blitzende Sterne, und als nochmals eine gleiche kam, lag tief unter ihm das Lichtergeflimmer der Stadt. Immer ging es noch aufwärts; zuletzt stand er im Begriff, eine Frage zu thun, wo er sei. Doch gerade wie er die Lippen öffnen wollte, schlug von oben herab durch die lautlose Finsternis, ihn beinahe betäubend gleich einem wirklichen Schlag, ein machtvoll donnernder Ton auf ihn nieder. Ein paar Augenblicke überkam’s ihn wie Schwindel, dann hörte er durch den lang aussummenden Klang die Stimme seiner Führerin: „So, nun sind wir oben, Ihr werdet müde sein!“

Gleichzeitig blinkte ein Lichtschein auf, in dem er ihren Schattenumriß wahrnahm. Ihn befiel’s plötzlich mit einer widerlichen Empfindung, daß er lieber noch weiter im Dunkel hinter ihr aufgestiegen wäre, die Befürchtung kam ihm auf einmal, wenn er ihr Gesicht sehe, werde es häßlich und alt sein. Sie hatte eine Thür geöffnet, und nun stand er in einem niedrigen Stubenraum, ein großer Mann mit grauem Haar und Vollbart saß drin, bei einer kleinen Lampe in einem Buch mit jahrhundertaltem Einband lesend. Verwundert blickte er den Eintretenden an, dessen voraufgegangene Begleiterin jetzt, einen mit Bier gefüllten Krug auf den Tisch stellend, kurz mitteilte, was sie gethan habe. Der Alte hörte zu, unter seinen buschigen Brauen sammelte sich ein Glanz an, als sie ausgesprochen sagte er. „Das hast du brav gemacht, Mädel, und aufstehend reichte er dem Fremden die Hand entgegen. „Seid mir willkommen, was wir ausrichten können, Euch zu helfen, dessen seid Ihr sicher!“

Die Hand des Alten haltend, stand Alban wie in einem seltsamen Traum. Nun wandte er zum erstenmal die Augen nach seiner Retterin und sah in das auf ihn hin gerichtete liebliche Kindergesicht eines etwa siebzehnjährigen Mädchens, wie er ein so holdseliges noch nicht in seinem Leben gewahrt hatte.


*     *     *


Jetzt erfuhr er, an dem Tisch bei einfacher, doch ihm herrlich mundender Nachtkost sitzend, wo er war: auf dem Glockenturm der Hauptkirche der Stadt. Die Thür drunten war unverschlossen gewesen, weil das Mädchen noch ausgegangen war, um den Abendtrank für den Vater zu holen. Sie hatte ihre kleine Leuchte neben den Windfangverschlag der Kirchenthür auf den Boden gestellt und diese für die wenigen Minuten bis zu ihrer Rückkunft offen gelassen. Um ein paar Augenblicke früher oder später hätte der Verfolgte keine Rettung gefunden.

Der Alte hieß Toralt, er war der Turmwart hier oben, schon seit langen Jahren; sein Töchterchen hatte hier zuerst das Licht begrüßt, und seine um sechs Jahre später gestorbene Frau hatte er auf den Armen die Wendelstiege hinabtragen müssen, sie drunten in der Kirche in den Sarg zu legen. Doch er war vom Grab wieder heraufgestiegen, um droben allein mit der kleinen Gerlind weiter zu hausen. Frühgewöhnt, lief sie schon als winziges Ding mit hurtiger Sicherheit die drittehalb hundert Stufen der engen Treppe auf und ab, ging zur Schule und besorgte Einkäufe für den Lebensbedarf. So lebten die beiden in den zwei Gelassen der Türmerwohnung miteinander wie auf einer einsamen Bergspitze. Verkehr mit Leuten drunten unterhielten sie wenig, der beschwerliche Aufstieg schreckte ab, nur selten einmal begab Toralt sich hinunter. Ihm genügte voll seine Welt hier oben, er war ein für solche Einsamkeit von der Natur veranlagter Mensch, der zwar keine höhere Bildung empfangen, doch mit eigenen Gedanken begabt war, gewissermaßen ein Philosoph in seiner Art. Durch die Hinterlassenschaft eines alten Sonderlings, der vielerlei ihm in die Hände Geratenes angesammelt hatte, war er in den Besitz von allerhand Stücken aus Vorväterzeit gekommen, mit denen er seine Turmstube ausgestattet, Hausrat, Bildern, Behängen, Waffen. Auch alte Bücher befanden sich darunter, vielfach kraus wunderlichen Inhalts, aber sein klarer Sinn wußte der ihm zugefallenen Gabe zur geistigen Nahrung das Vernünftige zu entnehmen. Besonders zog Geschichtliches und Geographisches, das von den Landschaften um die Stadt her handelte, ihn an. Als fast einzige Besucher des Turms stellten zur Sommerzeit manchmal Fremde sich ein, die den Aufstieg nicht scheuten, um den wundervollen weiten Rundblick von den Kegeln des Hegaus über die endlos scheinende Bodenseefläche zu den Bergen des Algäu und vom Säntis bis an die Firnzacken der Berner Alpen zu genießen. Fast immer mit Erstaunen hörten sie, daß der Turmwächter ihnen nicht nur die Fragen nach jedem fernen Gipfel und jeder Ortschaft zu beantworten wußte, sondern daran auch Mitteilungen aus der Vergangenheit knüpfte, die sich in den üblichen Reisehandbüchern nicht fänden.

Doch Toralt lebte in seiner Stille nicht allein im Vergangenen, sondern auch mit der Gegenwart, auf die er gleich einem in hoher Luft schwebenden Vogel niedersah. Täglich brachte Gerlind ihm von ihrem Einkaufsgang das kleine städtische Zeitungsblatt mit, und über das, was darin von den Weltgeschehnissen berichtet ward, machte er sich gleichfalls seine eigenen Gedanken. Mithandeln unter den Menschen konnte er nicht, aber um so lebhafter ergriffen seine Empfindungen und Wünsche Partei in den Streitfragen und Kämpfen der Zeit. Und zwar nach der Richtung, daß Alban Hartlaub nicht leicht einen Zweiten zu finden vermocht hätte, der bereitwilliger gewesen wäre, alles dranzusetzen, ihm in seiner Bedrängnis und Hilflosigkeit Beistand zu leisten. Nach seiner kurzen Art war diese Gesinnung in den Worten zum Ausdruck gekommen. „Das hast du brav gemacht, Mädel“, und daß Gerlind so gehandelt hatte, legte nicht nur von rascher Geistesgegenwart bei ihr Zeugnis ab, sondern gleicherweise davon, daß die Tochter in jugendlicher Hingebung das Mitgefühl des Vaters für den schwerbedrohten Freischärler teilte.

Nach kurzer Zeit empfand sich Alban in dem weltentrückten, eigenartig behaglichen Gemach so wohl und gesichert, als sei er aus aller Gefahr über die Grenze hinübergelangt. Doch der Alte schüttelte den Kopf, ging auf den Umlauf hinaus und sah, sich über die Brüstung beugend, hinab. Rote Feuerzungen glüten drunten an mehreren Stellen um die Kirche, und zurückkommend, sagte er: „Sie haben mit Fackeln gesucht und Wachen um die Kirche gestellt, der Polizeihauptmann muß überzeugt sein, daß Sie auf irgend welche Weise in die verschlossene Kirche hineingekommen sind. Heut’ nacht wird nichts mehr geschehen aber morgen früh werden sie auch hier oben nachsuchen; darauf müssen wir bedacht sein. Legen Sie sich jetzt in mein Bett

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_466.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)