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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Zermatt und der Gornergrat.

Von J. C.Heer-Zürich. Mit Illustrationen nach photographischen Originalaufnahmen und Zeichnungen von W. Hoffmann.

Straße in Zermatt.

Nirgends steigen die Berge höher auf als im Wallis, seine Spitzen bilden die silberne Krone Europas. Im Innenraum, den die Zinken und Zacken umschließen, liegt tief eingegraben das Rhonethal. Städtchen mit südlichen Silhouetten, Weinberge, wallende Fruchtfelder, malerische Kastanien- und Feigenbäume, die sich auf die Hütten neigen, selbst die Linien der Landschaft atmen, im unteren und mittleren Teil des Thales wenigstens, eine mehr italienische als schweizerische Stimmung. Plötzlich aber und unvermittelt schaut durch grüne Waldeinschnitte ein fernes, in traumhafter Schönheit aufglänzendes Schneehaupt in die Ueppigkeit herein, bald hier, bald dort eines, und die rauschenden, emsigen Bäche, die nach der Rhone hervorbrechen, reden von stillen Seitenthälern, die unter dem Donner der Lawinen liegen.

Nur eines dieser tief in den Kranz der Schneeberge vordringenden Thäler ist der internationalen Touristenwelt als Reiseziel geläufig, das von Zermatt, das sich bei Visp öffnet. Nicht unverdient, denn es ist einzig und ohnegleichen, es ist der überwältigende Sammelausdruck alles dessen, was das Gebirge an Kraft und Ernst, an Erhabenheit und Schrecken besitzt, eine Zusammenfassung ohne mildernde oder ausfüllende Züge. Das Berneroberland, ja selbst Chamonnix sind Idyllen gegenüber der wilden grotesken Schönheit Zermatts, denn dort giebt es neben dem Großen Hübsches, Anmutiges und Liebliches genug, in Zermatt aber redet alles im Pathos, trägt alles den Charakter einer Uebernatur; es ist der letzte höchste, in wenigen großen Elementen zusammengefaßte Triumph des Hochgebirges. Vom romantischen Flecken Visp führt seit einigen Jahren eine Bergbahn nach Zermatt, und bereits die Fahrt dahin ist ein unvergeßlicher Genuß.

Zuerst wundert man sich, wie es überhaupt möglich sei, daß die Bahn sechsunddreißig Kilometer tief in das Gebirge eindringe, scheint es sich doch gleich hinter dem Ort zu einer ununterbrochenen Mauer zu schließen. Allein sie findet den Weg durch die Engschlucht des Zermatter Thalwassers, der Visp, die in gewaltigen Sprüngen über die Felsen hinuntersetzt und schneekühlen Staub bis an die Wagenfenster emporwirbelt. Die Lokomotive klettert nach dem Dörfchen Stalden empor, das wie ein Schwalbennest über den in blauen Dust getauchten Niederungen der Rhone schwebt. Eine schneeweiße zierliche Kirche und rebenumsponnene, braune, niedrige Häuschen aus Lärchenholz bilden den sonnigen Ort. Ein kühner blendendblanker Brückenbogen über die Visp verleiht ihm eine eigenartige Romantik, als wäre es das Werk eines leichtsinnigen italienischen Malers, der einen italienischen Traum in Farben festhalten wollte.

Allein gleich hinter Stalden ist der Traum des Südens aus. Tief im Hintergrund der Gebirgsspalte leuchten über schwarzen Waldwänden die Firnenkronen des „Doms“ einerseits, des Weißhorns anderseits. Ihnen braust der Zug entgegen, bald durch ebenen Thalgrund, bald an Halden empor, aber immer der treue Nachbar der in Stromschnellen brüllenden, stäubenden Visp. Von der Gewalt des Wassers und dem Charakter des Thals giebt das kamekesche Bild auf S. 457 eine lebendige Vorstellung; es ist vor dem Bau der Bahn entstanden, die jetzt auf der rechten Uferseite des Baches – links im Bild – hinläuft. Von Zeit zu Zeit grüßt der Pfiff der Lokomotive eine weiße Kirche, um die sich ein dunkles Bergdorf schart. Kleiner werden von Dorf zu Dorf die Hütten, niedriger die Fenster, und der Obstbaumwald, der es umgiebt, lichtet sich. In einem Dorf hat die Jugend noch einen Herbst mit Aepfeln und Birnen, im folgenden nur noch einen mit Kirschen, mit kleinen saftigen Kirschen. Sie werden gepflückt, wenn die Winzer draußen im Rhonethal unter Jauchzen die Trauben schneiden. Die nächsten Dörfchen haben keine Kirschbäume mehr, aber in kleinen Aeckern, die zwischen großen Steinen an der Sonne liegen, schmeicheln sie in zwei Sommern der schwarzen Krume die blaßgoldenen Garben ab. Manchmal genügen die zwei Sommer nicht, um das Getreide zur Reife zu bringen, es muß noch halbgrün geschnitten und an Holzgerüsten getrocknet werden.

Endlich sieht man auf beiden Flanken des Thales nur noch lichten, von Lawinenzügen durchfurchten Lärchenwald, Altmännerwald mit meterdicken Stämmen und hängenden Aesten, von denen graue Flechtenbärte niederfluten. Ueber dem Wald stehen die rauhen Felsen, an denen milchweiße Bäche niederflattern, über den Felsen leuchten die Gletscher mit blauschillernden Brüchen, über den Gletschern die weißen Schneefelder und Firnkuppen. Und in kühlen Stößen, die uns am heißesten Tag durchschauern, fährt der Bergwind thalaufwärts.

Zermatter Führer.

Aus entlegener Höhe tönt ein einförmiges Klopfen wie das Schlagen der Spechte in die Stille des Thales. Das sind die Werkhämmer der „Wässerwasserfuhren“. Die Bewohner der wallisischen Thäler fassen das Gletscherwasser, das mit fruchtbarem Steinstaub vermischt ist, in hölzerne Kanäle, führen es, um es zu erwärmen, an sonnigen Halden entlang und in vielen Verzweigungen stundenweit auf ihre Felder, damit ein nährendes Tröpfchen zu jedem Halm und Kraut gelangt. Die Kanäle sind aber häufig durch Steinschlag gefährdet. Die Werkhämmer nun,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_456.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)