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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

alle verblendeten Seelen gnädig erleuchten und insbesondere den Landgrafen Otto zu einer klaren Erkenntnis führen, damit er die neue ägyptische Plage der Malefikantenhetze von dem armen geliebten Glaustädt eh’stens hinwegnehme, dem glorreichen Beispiel gemäß, das drüben in Dernburg der kluge hochherzige Fürst Maximilian gegeben!

Der Gottesdienst ging zu Ende. Leider hatte ihm Doktor Ambrosius nicht beigewohnt. Hildegard fand das im höchsten Grade bedauerlich. Man hätte ja gut ein Stückchen Wegs mit ihm gemeinsam zurücklegen können.

Magister Leuthold hängte sich bei seiner Tochter ein. Das war eine alte Lieblingsgewohnheit von ihm, schon aus der Zeit her, da ihm das Kind noch kaum an die Schulter reichte. So schritten sie über den Marktplatz und am Gasthof zum Goldnen Schwan vorbei in die Weststraße. Ab und zu drückte der Vater seinem holdseligen Töchterlein mit liebkosendem Zeigefinger den Arm. Gesprochen ward von den beiden nur wenig.

Zu Haus angekommen, fand der Magister ein Schreiben des Doktor Ambrosius vor, das er in Hildegards Gegenwart aufbrach. Der Brief lautete:

„Hochzuverehrender Herr Magister!
Wertlieber Freund!

Gestattet mir, Euch in geziemender Achtung einen Vorschlag zu unterbreiten. Dafern Ihr und Euer schätzbares Fräulein Hildegard für diesen Nachmittag nicht etwas plant, was Euch lockender scheint, so möchte ich Euch hiermit gehorsamst bitten, Euch etwa um fünf Uhr in der städtischen Waldschenke am Lynndorfer Gehölz einfinden zu wollen. Dort spielt nämlich – wie Ihr vielleicht schon wißt – heute zum erstenmal die fahrende Komödiantentruppe des rühmlichst bekannten Paphnutius Zähler aus Wien. Anfang halb sechs Uhr. Man sitzt im Freien. Doch sind für den Fall unerwarteten Regens dichte Zelttücher gespannt. Leute, die besagte Schauspielerbande früher gesehen haben – zum Exempel Euer gelehrter Freund, der Notarius Weigel, der sie vor sechs oder acht Jahren zu Worms traf – geben mir die Versicherung, daß es der Mühe wert sei.

Ich würde mich glücklich schätzen, hochzuverehrender Herr Magister, Euch und das liebe Fräulein dort anzutreffen. Ich selbst habe noch in der Nähe – auf dem Gertraudenhofe – zu thun, gehe aber zuvor in die Waldschenke, um dort Plätze für uns zu belegen. Solltet Ihr leider behindert sein, so geb’ ich sie leicht wieder ab. Doch hoffe ich, daß Ihr werdet erscheinen können!

In submissester Ehrerbietung
Euer Hochgelahrten allezeit ergebener Diener
     Dr. Gustav Ambrosius.“

Magister Leuthold hatte den Brief halblaut vorgelesen.

„Nun?“ frug Hildegard lebhaft. „Was sagt Ihr dazu? Wir gehen doch, Vater? Nicht wahr? Das erfordert doch schon die Höflichkeit.“

Er klopfte ihr lächelnd die Wange. „Meinst du? Ja, wenn’s die Höflichkeit von uns erheischt, dann giebt’s ja kein Widerstreben! Welche Uhr ist’s jetzt?“

„Halb Vier.“

„Gut! Wir ruhen uns also ein Weilchen aus und machen uns dann aus angeborener Höflichkeit auf den Weg.“ Die Tochter umarmte ihn.

„Ich dank’ Euch, Vater! Ich bin so über die Maßen neugierig! Theaterspielen hab’ ich noch nie gesehen. Ich weiß ja wohl, Ihr setztet Euch lieber still in den Garten und nähmet ein Buch zur Hand. Aber für mich bringt Ihr gern ein Opfer!“

Magister Leuthold wunderte sich, daß Hildegard seine Einwilligung so pathetisch nahm. Wie sich das anhörte. „Ein Opfer!“ Aber er sagte nichts. Seit einiger Zeit kam sie ihm ja überhaupt merkwürdig verändert vor. Sollte sie wirklich …? Nun, wie der Himmel wollte!

10.

Kurz nach vier Uhr waren die beiden marschfertig. Hildegard hatte sich um des weltlichen Zwecks willen artig herausgeputzt. Das ernste blauschwarze Tuchkleid, das sie zum Kirchgang angelegt, schien ihr für den Besuch der Komödie viel zu düster und feierlich. Sie trug sanftschimmerndes Rosa mit ganz neumodisch aufgeschlitzten Puffärmeln, das Lieblingskleid ihres Vaters, dem sie in solchen Dingen trotz seiner Büchergelehrsamkeit einen sehr guten Geschmack zutraute.

Als man den großen Baumhof der Waldschenke betrat, herrschte hier schon das bunteste und belebteste Treiben. Unmittelbar am Haus war eine ziemlich umfangreiche Schaubühne aufgeschlagen. Der hochrote Vorhang zeigte in goldfarbigen Rundrahmen die neun Musen mit ihrem leierschlagenden Führer Apollo. Oben am Rand las man die halbverblichene Aufschrift: Theatrum Paphnutii Zaehlerii Vindobonensis. Die rohgezimmerten Bänke und Strohstühle unter den Zelttüchern waren mit Nummern versehen und vielfach bereits von ungeduldigen Zuschauern eingenommen. Der größere Teil des Publikums aber saß noch draußen bei Wein und Bier oder lustwandelte plaudernd im Gang der blühenden Linden. Alle Stände, Berufsklassen und Lebensalter mischten sich hier zwanglos untereinander, Künstler und Ratsherren, Kinder und Greise, Bauern und Städter. Besonders zahlreich waren die Frauen und Mädchen. Die Unterhaltung drehte sich beinahe überall um das gleiche Thema, die bevorstehende Aufführung und die bisherigen Kunsterfolge der Truppe. Jeder wußte etwas Besonderes. Der eine rühmte die glänzende Ausstattung, die guten Vernehmen nach mit den trefflichsten Leistungen der königlichen Theater in Frankreich wetteifern konnte, der andere tischte die Mitteilung auf, Fürst Maximilian von Dernburg habe einmal zu Augsburg erklärt, Paphnutius Zähler sei der großartigste Spaßmacher seiner Epoche. Ein dritter pries den ausgezeichneten Osann, ein vierter die anmutige Demoiselle Haricourt, eine junge Französin aus Nancy, die sich trotz ihres mangelhaften deutschen Accents überall die Herzen im Sturm eroberte. Glaustädt würde an diesen Vorstellungen seine Freude erleben …

Von Doktor Ambrosius war einstweilen noch nichts zu sehen. Wohl aber saß da gleich vorn an dem niedrigen Ecktisch der kunstverständige Freund, den Doktor Ambrosius in seinem Briefe erwähnt hatte, Rolf Weigel, der kleine bucklige Notar. Das feine, geistvolle Gesicht des Verwachsenen leuchtete auf, als er seinen verehrten Studiengenossen Leuthold und die liebliche Hildegard auf sich zukommen sah. Der Notar lebte zwar völlig zurückgezogen und hielt sich von jeden Familienverkehr fern. Er hatte Herrn Leuthold erst ein einziges Mal in seinem Glaustädter Heim aufgesucht. Einladungen lehnte er grundsätzlich ab. Er passe mit seiner spitzkantig verschrobenen Gestalt nicht in den Kreis froher Geselligkeit, noch in die schönen rechtwinkligen Feststuben. Aber er fühlte bei all diesem Sonderlingstum doch eine unverjährbare Anhänglichkeit und freute sich stets, wenn ihn der Zufall irgendwo draußen mit Herrn Leuthold zusammenbrachte.

Rolf Weigel und der Magister begrüßten sich. Vor Hildegard machte der kleine Notar ein etwas schwerfälliges Kompliment. Hiernach bat er die Leutholds mit freundlicher Höflichkeit, an seinem dreibeinigen Ecktisch mit Platz zu nehmen.

„Ihr müßt Euch schon meine glanzlose Nähe gefallen lassen, vieledles Fräulein,“ fügte er lächelnd hinzu. „Aber Ihr seht, ringsum ist alles besetzt! Viel zu viel Publikum für den beschränkten Raum!“

Hildegard sagte ihm etwas Verbindliches. Weigel war ihr trotz seiner unvorteilhaften Erscheinung sympathisch.

Man setzte sich.

Während ihr Vater mit dem Notar ein halblautes Gespräch anknüpfte, ließ Hildegard ein wenig die Blicke umherschweifen. Just in der Tischreihe vor ihr saßen drei allbekannte Glaustädter Patrizier mit ihren reich gekleideten Ehewirtinnen, dazwischen auch etliche junge Leute. Weiter links, vorn in der dritten Reihe, gewahrte sie Elsbeth und Dorothea, die beiden rotblonden Töchter des Bürgermeisters. Die Mädchen weilten hier in Gesellschaft ihres mütterlichen Oheims, des landgräflichen Oberförsters. Der Bürgermeister selbst war nicht anwesend. Elsbeth und Dorothea nickten recht artig herüber und kamen nach fünf Minuten auf Hildegard zu, um der liebwerten Freundin die Hand zu schütteln. Dann aber nahmen sie rasch wieder Abschied. Elsbeth hatte bemerkt, daß sich der Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck dem Tisch ihres Oheims näherte. Den Ratsbaumeister jedoch wollte sie unter keiner Bedingung versäumen. Sie schmeichelte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_431.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)