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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Tempel um Tempel erheben sich überall in dieser Stadt des Buddha. Manche von ihnen bedecken mehrere Morgen Land, manche liegen verborgen zwischen Häusern und Kanälen, manche an den Straßenecken oder auf künstlich aufgeworfenen Erdhügeln. Sie zeigen verschiedene, aber immer phantastische Formen und werden bewacht von grotesken Riesenstatuen (vgl. die untenstehende Abbildung), die scheußlichen Teufelsfratzen, Krieger, Tiergestalten, ja Menschen in modernen europäischen Trachten in Frack und Cylinderhut, darstellen! Um die einzelnen Höfe dieser Tempel ziehen sich gedeckte Galerien, deren Wände mitunter ganz vorzügliche Wandmalereien bedecken, oder denen entlang Tausende und aber Tausende von Buddhastatuen stehen, in den verschiedensten Größen, von Fingerlänge bis zur zwanzigfachen Lebensgröße. In Seitengebäuden dieser Tempelhöfe hausen Dutzende von Büßern, in lange weiße Gewänder gehüllt, wochen- und monatelang. Andere Tempel enthalten buddhistische Heiligtümer oder nur vergoldete Schränke, in welchen Tausende von Gebeten und Predigten auf langen Palmblattstreifen, mit der heiligen Palischrift geschrieben, aufbewahrt werden; in wieder anderen wird das Auge des Besuchers geblendet von den größten Kostbarkeiten; hier liegen Häuflein Diamanten und Rubinen, Kronen, Ringe, blitzende Geschmeide aller Art, ragen lebensgroße Buddhastatuen aus getriebenem Golde, alles aufgespeichert zur größeren Ehre dieser indischen Gottheit, und Dutzende von Priestern in ihren langwallenden gelben Gewändern hüten diese Schätze und diese Tempel. In anderen Gebäuden, beschattet von den dunklen Laubkronen des heiligen Bodibaumes, sieht man Buddhas in liegender Stellung, aus Bausteinen und Mörtel aufgemauert, die zu den größten Statuen der Welt gehören, häufig bis siebzig Schritte lang und ganz mit dünnen Goldplättchen vergoldet! An manchen Stellen der weiten Tempelhöfe erheben sich steinerne Altäre, überhöht von säulengetragenen Dächern, und auf diesen glimmen Holzscheite, die dicke, übelriechende Rauchsäulen zum Himmel emporsenden. Das sind die Verbrennungsstätten der Menschenleichen! Im Wat Saket, diesem schrecklichsten aller Tempel, die ich auf dem Erdball gesehen, befindet sich eine ganze Anzahl solcher Verbrennungsaltäre, und das Feuer erlischt dort niemals.

Eingang zum Wat Tscheng.

Aber der Tod hat für die Buddhisten – und es giebt keine eifrigeren, als es die Siamesen sind – keine Schrecken, sie begrüßen ihn als Erlösung, als die notwendige Vorstufe zur Erreichung des köstlichen Nichts, des Nirwana. So herrscht denn auch um die Begräbnisstätten ebenso wie in der ganzen Stadt sorglose Fröhlichkeit, Vergnügen, Liebe und Spiel, denn ein sorgloseres Volk ist wohl kaum zu finden – auch keines, in welchem die irdischen Glücksgüter ungleicher verteilt wären, wo es größere Reichtümer, aber auch größere Armut gäbe – und doch kein Elend! Die Siamesen sind bedürfnislos, ihre leichten Wohnungen aus Bambusrohr und Palmenblättern, ihre mehr als einfache Kleidung, ihre Nahrung aus Reis, Fischen, Gemüsen erfordern keine großen Geldopfer, keinen Kampf ums Dasein, und arbeiten sie mehr, als sie für ihres Leibes Notdurft brauchen, so wird der Verdienst häufig dem Spiel geopfert. Sie sind leidenschaftliche Spieler. Bei Tag und Nacht auf den Straßen oder in den zahllosen von Chinesen gehaltenen Spielhöllen wechseln die silbernen Ticalsmünzen unausgesetzt die Hände. Die Siamesen spielen um ihre Habe, ihre Frauen, zuweilen um ihre Töchter, um ihre eigene Person. Ist alles fort, so begeben sie sich leichten Herzens in die Schuldsklaverei und spielen als Sklaven weiter, um vielleicht das Geld zu gewinnen, sich damit wieder loszukaufen!

Sie sind kein Industrievolk, das sieht man auf einem Gang durch den großen Bazar von Sampeng, wo der größte Teil des Handels und der Industrie in den Händen von Chinesen liegt. Die Siamesen sind zumeist Ackerbauer, Fischer, Schiffer, Diener, Sklaven der großen Herren, die in dem Stadtteil rings um den Königspalast wohnen. Welcher Kontrast zwischen dem Gewirr schmutziger Gäßchen mit den Tausenden winziger Kaufläden und den Zehntausenden von fremdartigen, bunt gekleideten, fröhlichen Menschen, die sich dort drängen, und dem vornehmen königlichen Stadtteil! Der Wille des aufgeklärten, von staatsmännischer Weisheit und Sorge für sein Volk erfüllten Königs hat dort Wunder geschaffen. Ohne irgendwie die altangestammte Kultur des Landes aufzugeben hat er viele der das Volk bedrückenden Lasten und Einrichtungen beseitigt, er hat dafür den Segnungen der europäischen Kultur Eingang verschafft und damit bei sich selbst begonnen. Rings um die Palaststadt mit ihren phantastischen Pagoden und Tempeln erheben sich moderne Schulen, Hospitäler, Post- und Telegraphenämter, Regierungsbauten und von oben herab, vom König und den zahllosen Prinzen angefangen, macht die Aufklärung immer mehr Fortschritte.

König Chulalonkorn der sich, wie schon gesagt, gegenwärtig auf Besuch in Europa befindet, wurde am 22. September 1853 geboren und bestieg als fünfzehnjähriger Jüngling im Jahre 1868 den Thron, als der fünfte König seiner Dynastie. Sein Vater hatte dafür gesorgt, daß er eine sorgfältige Erziehung erhielt. Zu seinen Lehrern und Lehrerinnen zählten außer einheimischen Gelehrten die Amerikanerin Mrs. Leonowens und Kapitän John Busch. Chulalonkorn war auch in späteren Lebensjahren bestrebt, die europäische Civilisation kennenzulernen, und besuchte zu diesem Zwecke die indischen Städte Singapore, Bombay und Kalkutta, er sorgte auch dafür, daß eine Uebersetzung ausgewählter deutscher und englischer Werke ins Siamesische veranstaltet wurde. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Reise des Königs durch Europa seinen Gesichtskreis noch mehr erweitern und ihn zu neuen Reformen in seinem Reiche veranlassen wird. Trotz aller Vorliebe für die abendländische Kultur wahrt aber Chulalonkorn pietätvoll die alten Sitten seines Landes.

So hat auch sein Hof alle Eigentümlichkeiten der früheren Zeit beibehalten, und kein Hof kann glänzender sein als jener von Siam. In den großartigen Palästen sind die seltensten Kostbarkeiten aufgehäuft, in den Haremsbauten wohnen Hunderte der schönsten Frauen des Landes, bedient von Tausenden von Sklaven. Jedes Fest der königlichen Familie ist ein Freudenfest für das Volk, das seinem Herrscher ohne Rückhalt Verehrung und Liebe entgegenbringt. Keine Familie kann größer sein als jene des Königs. Sein Vater, der 1868 verstorbene König Mongkut, hinterließ gegen achtzig Kinder, der regierende König hat deren vielleicht die doppelte Zahl, und jeder Geburtstag, jede Leichenverbrennung, jeder Erinnerungstag wird durch die rauschendsten Festlichkeiten gefeiert, die jährlich Millionen verschlingen, die aber ausschließlich dem Volke selbst zu gute kommen. Bei solchen Hoffestlichkeiten herrscht in den Straßen und auf den Plätzen um die Palaststadt ein ebenso buntes, bewegtes, großartiges Leben wie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_419.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)