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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

undurchdringlichen Gewirr machten, schlängelten sich große giftige Schlangen, und in den Flüssen und Sümpfen hausten Massen von Krokodilen.

Pagoden des königlichen Tempels.

Es war einmal … so hatte meine Mutter mir ein Königsmärchen erzählt, als ich noch ein kleiner Junge war und noch nicht zur Schule ging, und gar oft mußte die Mutter das Märchen wiederholen, und dann träumte ich mich hinein in diese ferne, feenhafte Märchenwelt der Tropen und wünschte jedesmal, sie in Wirklichkeit zu sehen, wenn ich einmal groß geworden war, denn wie konnte ich damals wissen, daß Märchen Gebilde der Phantasie sind?

Aber dieses Königsmärchen meiner frühen Jugend ist kein solches. Nicht „Es war einmal“ soll es heißen, sondern „Es ist“, es ist in Wirklichkeit vorhanden, im fernen Hinterindien, an den Ufern des großen Menamstromes, gerade auf jener entlegenen Halbinsel Asiens, auf welcher man es am wenigsten vermuten würde. Wohl haben einzelne Reisende Bangkok, die Hauptstadt des Königreiches Siam, geschildert, aber dennoch traut man seinen Augen kaum, wenn man wirklich das breite Bett des hinterindischen Nilstromes aufwärts fährt und plötzlich die Märchenstadt mit ihren zahlreichen Pagoden, Palästen und vergoldeten Türmen sieht, die sich hier, einige Stunden oberhalb der Mündung, inmitten der üppigsten Tropenvegetation ausbreitet.

Tonnenboote und schwimmende Häuser.

Der König dieser Stadt und dieses Reiches ist nach Europa gekommen, um die Wunder des Abendlandes kennenzulernen, doch wird er, dessen Auge von den Herrlichkeiten seiner Residenz verwöhnt ist, hier vergeblich nach etwas suchen das sich an Seltsamkeit, Reichtum und Farbenpracht mit der Tempelstadt Bangkok vergleichen ließe!

In Europa hat er auf seiner Reise zuerst Venedig berührt, und gerade diese Stadt ähnelt Bangkok am meisten. Denn ganz wie sie, so ist auch Bangkok eine Stadt der Kanäle. Zu beiden Seiten der gelben, trüben Fluten des Menams, die sich in derselben Breite wie etwa der Rhein bei Mainz dem Golf von Siam zuwälzen, zieht sich ein scheinbar unentwirrbares Labyrinth von Kanälen über die vierzig Quadratkilometer Tiefland, auf welchem innerhalb einer weißen mit Türmen besetzten Ringmauer Bangkok liegt. Ja, es sind hier, sozusagen zwei Städte übereinander: zunächst die Stadt der Kanäle, auf welchen Tausende und aber Tausende von Häusern schwimmen und auf denen in kleinen und großen Booten ein so reger Verkehr herrscht, daß man nur mit der größten Mühe und dank der Geschicklichkeit der eingeborenen halbnackten Ruderer durchkommen kann. Ein Stockwerk höher erhebt sich auf dem Festlande eine zweite Stadt mit steinernen oder hölzernen Häusern und einem dichten Gewirr von festen Straßen, welche die Kanäle mittels Brücken übersetzen. – Weiter hinaus von der inneren Stadt werden die Festlandstraßen immer spärlicher, die Kanäle immer zahlreicher, dabei immer schmäler, bis schließlich nur mehr ein paar Quadratmeter große Reisfelder vorhanden sind, jedes einzelne auf allen Seiten von Kanälen umgeben. Und dahinter erhebt sich die düstere, dunkle Mauer des tropischen Urwaldes mit den seltsam geformten, großblättrigen, von Lianen umwundenen Baumriesen …

Alles ist ebenes, angeschwemmtes Land, ohne die geringste natürliche Erhebung, ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_417.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)