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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Unterlaufe eines der herrlichsten Flußthäler Deutschlands bildet, zeigt auch in den ihrer Quelle nahegelegenen Gebieten nicht selten eine anmutreiche Umrahmung, namentlich bei Biedenkopf selbst und dann bei dem benachbarten Laasphe, über dem das Schloß Wittgenstein liegt. Das Städtchen Biedenkopf, ganz von bewaldeten Bergen eingeschlossen, schmiegt sich an den Abhang eines Hügels, dessen Gipfel das nach seiner Zerstörung im Dreißigjährigen Kriege zum Teil wieder aufgebaute Schloß trägt. (Vergl. Abbildung S. 394) Ein lieblicher Weg führt durch den Schloßhain auf die Höhe, von wo man einen sehr schönen Blick genießt. Auch auf die Kuppen in der Runde giebt es wohlgepflegte Wege, und der südlich der Lahn gelegene Altenberg hat neuestens durch den Biedenkopfer Verschönerungsverein reizende Schmuckanlagen erhalten, deren sich der Wanderer dankbar erfreut.

Dem Fremden fallen in der Umgebung von Biedenkopf die mannigfaltigen und zum Teil sehr originellen Trachten der Landbewohner auf, das heißt, die Trachten der Frauen, denn diejenigen der Männer sind leider schon fast gänzlich verschwunden und haben der farb- und charakterlosen Allerweltskleidung weichen müssen. Nur in wenigen Dörfern, wie in Buchenau, tragen auch die Männer bisweilen noch eigenartige Gewänder (vergl. Abbildung S. 396). Keine Gegend in ganz Mittel- und Norddeutschland bietet eine solche Fülle verschiedener Frauentrachten wie das Hinterland, und wer etwa an einem Markttage oder gar zu einem großen Fest nach Biedenkopf kommt, der staunt über die Buntheit der Gestalten, die sich hier zeigen.

Das trachtenberühmteste Thal des Hinterlandes ist der sogenannte „Grund Breidenbach“, der sich von dem zwischen Biedenkopf und Laasphe gelegenen Dorfe Wallau nach Süden erstreckt, und dessen Mittelpunkt das Dorf Breidenbach bildet. Das Charakteristische der Frauengewandung dieser Gegend (vergl. Abbildung S. 396) liegt vor allem in der Kopfbedeckung, einer roten, das Hinterhaupt bedeckenden und nach hinten abstehenden, gestickten Mütze (Stülpchen), nach der man in der Umgegend auch die Trägerinnen dieser Hauben scherzweise „Kiwwelcher“ (Kübelchen) zu nennen pflegt. Der übrige Anzug besteht aus schwarzem Koller über grünem Mieder, grünrotem Halstuch, kurzem, schwarzem, gefälteltem Rock mit blauer Schürze, hohen, bis an die Knöchel reichenden Schnürschuhen und weißen Strümpfen mit bunten Strumpfbändern, deren grünrote Troddeln stets sichtbar sind. Für die Festkleidung wird statt des grünen Mieders ein blendend weißes gewählt, zum Tanze, wozu eine möglichst helle Tracht bevorzugt wird, tragen die Mädchen auch weiße Schürzen.

Merkwürdig ist die ganz feststehende Farbenordnung, die für die Zeit der Trauer und der Halbtrauer gilt. Die Farben tiefer Trauer für die Mädchen sind im Breidenbacher Grund weiß und blau: die Mütze ist weiß (statt rot), das Halstuch blau (statt grün). Die Troddeln der Strumpfbänder grünblau (statt grünrot). Halbtrauer (beim Tod entfernter Verwandten) wird durch violette Kappen und violettes Halstuch angezeigt; Farben, die übrigens auch von älteren Personen als ständige Tracht getragen werden. Der Uebergang von der Halbtrauer zur gewohnten Kleidung wird durch Beibehaltung der violetten Kopfbedeckung und Annahme der grünroten (statt grünvioletten) Strumpfbandquasten angedeutet.

Im Sommer wird dieselbe schwere Tracht wie im Winter getragen, entsprechend der alten Bauernregel: Was für die Kälte gut ist, ist auch für die Hitze gut. Die Liebe zu der altheimischen Tracht ist bei den Frauen im Breidenbacher Grunde so groß, daß sie schon ihre Wiegenkinder, wenn sie kaum ein Vierteljahr alt sind, wie die Erwachsenen kleiden, und die Kinder wiederum wollen keine anderen Puppen als solche, die genau aussehen wie sie selbst. Aehnlich ist es in anderen Ortschaften, z. B. in der Gegend von Gladenbach, wo die kleinen Mädchen meist in derselben Tracht wie die Mütter erscheinen. Einen eigentümlichen Anblick bietet es, wenn am Sonntagabend die Mädchen spazieren gehen, sie ziehen dann Arm in Arm, Schulter an Schulter durch das Dorf, so zwar, daß sie mit ihren Reihen fast die ganze Straßenbreite einnehmen.

Der südliche Teil des Breidenbacher Grundes wird noch heute – nach einer in früheren Jahrhunderten gültig gewesenen Einteilung der Landschaft in verschiedene Gerichtsbezirke – das „Obergericht“ genannt. In dieser Gegend, wozu unter anderem die Ortschaften Lixfeld, Simmersbach, Gönnern, Ober-Eisenhausen, Nieder-Eisenhausen und Steinperf gehören, herrscht eine ähnliche Tracht wie die oben beschriebene (vgl. Abbildung S. 396), nur daß die Kappen, bei fast cylinderförmiger Gestalt, nicht nach hinten abstehen, sondern schräg in die Höhe gerichtet sind, wodurch die Tracht natürlicher und kleidsamer wird. Bei der Arbeit tragen übrigens die Frauen und Mädchen aus dem Obergericht durchweg schwarze Kopfbedeckung, und nur am Sonntag wird die rote, goldgestickte Mütze angelegt. Die Festtracht wird außerdem, ebenso wie in den das „Amt Biedenkopf“ (vgl. Abbildung S. 396), bildenden Orten Eckelshausen, Kombach, Wolfgruben, Dautphe und Umgegend, durch eingelegten, buntgestickten und mit Metallplättchen besetztes Brustlatz vervollständigt.

Eine sonderbare Eigenheit zeigt die Gewandung der Mädchen von Bottenhorn (vgl. Abbildung S. 396), die von den Kostümen des benachbarten Breidenbacher Grundes vor allem durch das schmale, nach oben spitz zulaufende Käppchen (ähnlich wie im Amt Biedenkopf) abweicht. Das in unsere Zusammenstellung der Trachten aufgenommene Bild zeigt ein ausziehendes Bottenhorner Dienstmädchen, das von seinen Spinnstubengenossinnen, deren zwei den Kleiderkasten der Freundin tragen, nach dem Ort des neuen Dienstes begleitet wird. Das Sonderbare in der Gewandung besteht nun darin, daß die Mädchen sämtlich eine Anzahl von Falten in den Strümpfen haben, so daß es aussieht, als wären diese heruntergerutscht. „Wie seltsam!“ rief eine Städterin, die Bottenhorn besuchte, aus, „alle Mädchen tragen ja hier zu weite Strümpfe!“ – „Mitnichten, Verehrteste“, erhielt sie zur Antwort, „diese Ringeln in den Strümpfen sind kunstvoll hineingestrickt, und sie haben eine tiefere sinnbildliche Bedeutung.“ Auf ihre weiteren Fragen erhielt dann die Erstaunte folgende Auskunft: Je reicher ein Mädchen von Bottenhorn ist, um so mehr Falten strickt es in seine Strümpfe, und zwar steht, wie behauptet wird, diese Skala so unabänderlich fest, daß besonders Eingeweihte nach der Anzahl der Strumpfrunzeln das Vermögen der Schönen annähernd richtig zu schätzen imstande sind. Die Städterin, die von ihrem Geschlecht nicht eben die beste Meinung zu hegen schien, wagte nun zu fragen, ob nicht durch diese Einrichtung heiratslustige Mädchen von Bottenhorn sich zum „unlauteren Wettbewerb“ um einen Mann anreizen ließen, worauf sie zur Antwort erhielt, daß Lug und Trug etwas Unbekanntes im Hinterland seien und daß die Anlegung einer übertriebenen Anzahl von Strumpfringeln der Uebelthäterin für immer zu Schimpf und Schande gereichen würde. In unserer Zusammenstellung der Trachtenbilder dieser Gegend finden wir noch die Trachten verschiedener anderer Dörfer dargestellt, die sich zum Teil von den oben geschilderten nur wenig unterscheiden, zum Teil, wie die aus dem Ederthal, der städtischen Kleidung sich nähern. Bezüglich der Gladenbacher Tracht, die in zwei Darstellungen vertreten ist, sei bemerkt, daß das erste Bildchen die alte, jetzt verschwindende Kleidung, das zweite (Nr. 5) die neue von dem jüngeren Geschlechte aufgebrachte darstellt. Die alte Tracht fällt besonders durch die längliche, wulstige, holzschuhförmige, den Kopf entschieden verunstaltende Haube auf, an deren Stelle jetzt ein vielfarbiges, mit goldglänzenden Metallplättchen besetztes spitzes Käppchen getreten ist, wie überhaupt die neue Tracht entschieden gefälliger anmutet als die alte.

Selbstverständlich treten in einer Gegend von so scharf individuellem Gepräge bei gewissen feierlichen Anlässen noch besondere, meist auf uralte Volksanschauungen und Gebräuche zurückweisende Eigentümlichkeiten zu Tage. So birgt im Breidenbacher Grunde die Braut, wenn sie vor den Altar tritt, die gefalteten Hände unter einem geflickten Tuche – die beliebten Farben sind auch hier wieder rot und grün – und sie darf während der Dauer der feierlichen Handlung keine der Hände unter dem Tuche hervorziehen, bis sie die Rechte dem Verlobten reicht. Aehnlich erscheinen Frauen und Mädchen beim Abendmahl, doch so, daß Verheiratete und Unverheiratete sich durch die Haltung des Tuches unterscheiden: während nämlich die Mädchen das Tuch einfach über die Hände legen, halten die Frauen einen Zipfel des Tuches mit einer Hand fest. In den verdeckten gleichsam gebundenen Händen der Braut haben wir höchst wahrscheinlich ein altes Symbol der Unterwürfigkeit der Frauen, wie sie in Urzeiten bei den Franken bestand, zu erblicken, eine Erinnerung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_395.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)