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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

reden wir eingehend. Von neuem begab er sich mit der hageren Bertha hinüber ins Wohnzimmer.

„Ihr seid sein Retter!“ stammelte sie verzückt und ergriff seine Hand.

„Vieledle Jungfrau, ich thue hier nur meine Pflicht! Auch sind wir ja längst noch nicht über den Bergrücken.“

„Nicht?“ raunte sie zweifelnd. „Ich dachte, sobald er das Heilmittel getrunken hätte …“

„Ihr überschätzt meine Kunst. Euer Herr Oheim ist offenbar schon seit geraumer Zeit aus dem Geleise. Er denkt und grübelt zu viel. Die ganze Ernährung ist mangelhaft … Was aber Wochen und Monate hier verdorben und ausgerenkt haben, das kann der Arzt nicht so im Handumdrehn wieder einrenken.“

„Mein armer vortrefflicher Oheim!“ flüsterte Bertha tieftraurig. „Ja, es ist wahr, er grübelt zu viel und hat wohl zu wenig Schlaf. Sein aufreibendes Amt stört ihm die Nachtruhe. Und seit einiger Zeit schmeckt’s ihm auch nicht wie sonst. Guter Gott, wenn ihm nur nichts Bedenkliches zustößt! Ach, Ihr glaubt ja nicht, wie sich mein Herz um ihn bangt! Außer ihm hab’ ich auf Gottes weiter Welt keine menschliche Seele.“

Und nun erzählte sie mit wachsender Lebhaftigkeit, wie sie von Kindheit an verwaist und verlassen sei. Oheim Xylander hatte ja eigentlich etwas Strenges und Kaltes, aber er war doch der einzige Mensch, der sie was anging. Und brav war er auch und fleißig vor allem Uebrigen, und neben den Tagespflichten machte er noch zum Heile der Menschheit die schwerwiegenden Studien im „Hexenhammer“, die ihn wohl nachgerade so überreizt hatten. Sie hing nun einmal an ihm, sie verehrte ihn, obwohl sie ja wußte, daß er in Glaustädt wenig beliebt war und selber kein großes Bedürfnis hatte, sich anzuschließen.

Doktor Ambrosius hörte ihr schweigend zu. Mehr und mehr fühlte er wirkliche Teilnahme für dies arme Geschöpf, dessen letzter Freund und Verwandter ein so verödeter, blindfanatischer Mensch war. Als sie geendet hatte, sagte er ihr ein gutherziges Wort. Da ging es über ihr unschönes Antlitz wie Sonnenschein. Bei diesem Aufleuchten vergaß man beinahe, wie reizlos und ältlich sie war.

Nach Verlauf einer Viertelstunde begab sich der Arzt wieder ins Krankenzimmer. Er fand den Patienten leidlich beruhigt, aber doch sehr niedergeschlagen und kleinmütig. Ambrosius setzte sich zu ihm aufs Bett und fragte ihn mit vertrauenerweckender Freundlichkeit aus. Dann faßte er sein Urteil zusammen wie folgt. „Euer Zustand, Herr Stadtrichter scheint nicht eben gefahrvoll, wenn auch ängstliche Schonung not thut. Ihr seid stark überarbeitet. Und – das möcht’ ich betonen – just die Art Eurer Beschäftigung hat Euch so zugesetzt. Eure Stellung als Malefikantenrichter läßt Euch fortwährend Einblicke thun in die trostlosesten Abgründe des Lebens. Das regt Euch fortwährend auf. Dazu kommt Euer starkentwickeltes Pflichtgefühl und das Bewußtsein der ungeheuren Verantwortlichkeit, die auf Euch lastet. Kurz, Herr Stadtrichter, wenn Ihr nicht ernstlich erkranken wollt, müßt Ihr Euch unbedingt eine Zeit lang ausspannen.“

„Das geht nicht!“ rief Xylander, sich aufsetzend. „Ich darf wohl sagen, ich bin die Seele des ganzen Gerichtshofs. Natürlich abgesehen von unserm Herrn Vorsitzer, dessen Verdienste ich gewiß nicht verkleinern will. Aber auch er überläßt mir vieles zur selbständigen Vorbereitung. So wieder jüngst den furchtbaren, schier unglaublichen Fall der Wedekindin.“

Doktor Ambrosius erbebte ein wenig. Rasch gefaßt aber sagte er wie aus tiefernster Erwägung heraus:

„Ich weiß nicht, was man der Frau schuld giebt. Da Ihr den Fall jedoch als schier unglaublich bezeichnet, so darf ich schließen, daß er Euch ganz besonders erregt hat. Der heutige Anfall hängt vielleicht mit dieser Sache zusammen. Habt Ihr wohl gar in eigener Person das Verhör geleitet?“

„Das versteht sich von selbst. Ich sagte ja schon, daß Herr Balthasar Noß den Fall zunächst mir überantwortet hat.“

„Und die Einzelheiten dieses Verhörs waren erschütternd?“

„Die Einzelheiten des kurzen Verhörs? Nein. Das währte kaum fünf Minuten. Erst später, wenn ich die Angeklagte torquieren lasse, dauert das länger. Aber die wachsende Fülle der Zeugenaussagen! Ihr glaubt nicht, was da für krasse Entsetzlichkeiten zu Tage kamen! Ich darf mich hier nicht weiter darüber aussprechen, die Amtspflicht verwehrt mir’s. So viel jedoch kann ich Euch sagen, nie bis jetzt hab’ ich etwas von gleicher Abscheulichkeit und Fürchterlichkeit erlebt.

„Ich dachte mir’s wohl. Und just weil Euch der Fall der Wedekindin so scharf an die Seele faßt und Euch so sichtbarlich Schaden thut, müßt Ihr einstweilen ihm fern bleiben. Ihm und den Obliegenheiten des Amtes überhaupt! Das allerdings möchte ich Euch beileibe nicht raten, just diesen Prozeß, der Euch so unwiderstehlich gepackt hat, um der fünf oder sechs Wochen willen ganz aus der Hand zu geben. Fünf oder sechs Wochen braucht Ihr nämlich als das Mindeste für Eure Erholung …“

„Unmöglich!“

„Es ist so! Und ich rechne dabei noch außerordentlich knapp. Also – was ich bemerken wollte. Ihr braucht Euch ja die Arbeit der Untersuchung deshalb nicht nehmen zu lassen. So sehr brennt doch die Sache nicht auf dem Nagel. Ich fürchte, es möcht’ Euch beunruhigen und Euch später wohl gar noch Zweifel und arge Gewissensskrupel verursachen, wenn Ihr zurückträtet, wo es sich um so schwerwiegende Dinge handelt.“

„Da habt Ihr recht. Den Prozeß der Wedekindin muß ich zu Ende führen, und zwar schleunigst!“

„Sobald Ihr könnt. Behaltet Euch den Prozeß vor und zieht anderthalb Monate aufs Land. Herr Noß wird Euch wohl keinerlei Schwierigkeit machen. Ihr aber geht binnen acht Tagen zu Grunde, wenn Ihr nicht vollständig rastet.“

„So schlimm steht es mit mir?“

Doktor Ambrosius zuckte die Achseln: „Nicht gerade hoffnungslos, wenn Ihr vernünftig seid, aber doch schlimm genug, um äußerste Vorsicht nötig zu machen. Habt Ihr schon wieder vergessen, wie’s Euch gepackt und geschüttelt hat?“

„Freilich …“ stammelte Adam Xylander. „Und ich weiß nicht – jetzt, wo Ihr’s erwähnt, hebt’s auch schon wieder an …“

„Nein. Das ist Einbildung. Der Anfall wird heute nicht wieder kommen. Zur Nacht trinkt Ihr die zweite Dosis von diesem wohlthätigen Medikament da und schlaft bei geöffnetem Fenster. Morgen in aller Frühe verlaßt Ihr die Stadt. In Lynndorf oder in Königslautern findet Ihr unschwer ein Bauernhaus, wo man für Geld und gute Worte Euch aufnimmt. Eure Bruderstochter, natürlich, begleitet Euch. Und nichts von Akten oder dergleichen wird mitgeschleppt! Auch kein ‚Hexenhammer‘. Höchstens ein hübscher Kalender mit Schnurren und Reiseberichten, oder das Rollwagenbüchlein. Ob Ihr das kennt oder nicht, ist gleichgültig. Ihr dürft Euch sogar beim Lesen ein bißchen langweilen. Und dann treibt Euch soviel wie möglich im Wald herum, trinkt frische Milch und eßt, was Euch mundet! Auch ein Brettspiel mag Euch die Nichte einpacken. Dergleichen ist Euch gesünder als das wortlose Kauern und Trübsalblasen. Ich werde dem Fräulein das alles nochmals genau einschärfen. Und nun, Herr Stadtrichter, wünsch’ ich den besten Erfolg. Thut Ihr was ich hier anrate, so werden wir schon mit Gottes Hilfe Eures unleidlichen Uebels Meister werden.

Adam Xylander seufzte. Je länger Doktor Ambrosius zu ihm gesprochen hatte, um so mehr stand der Patient unter dem Banne des Arztes, der ihn so klar beurteilte und mit so kraftvoller Hand aus der bisherigen aufreibenden Lebensweise herausriß.

„Es kommt mich hart an,“ sagte Xylander, „aber ich sehe nun selbst, daß es sein muß. Inzwischen dank’ ich von Herzen für Eure Bemühungen. Könntet Ihr auch da draußen in Lynndorf bei mir sein! Ich weiß nicht, Eure Nähe schon wirkt beruhigend.

„Ich besuch’ Euch einmal. Gehabt Euch wohl!“ Doktor Ambrosius verneigte sich. Fünf Minuten noch sprach er im Nebengemach mit Bertha und wiederholte ihr alles, was er dem Kranken verordnet hatte. Besonders verweilte er auch bei der Notwendigkeit, die Sache der Wedekindin für den Beisitzer aufzubehalten. Er deutete an, daß Adam Xylander in dieser Beziehung von einer Wahnvorstellung gequält werde, auf die man ernstliche Rücksicht zu nehmen habe, wenn sie nicht ausarten solle.

Bertha schäumte von Erkenntlichkeit über. Sie hätte ihm beinahe die Hand geküßt.

„Verlaßt Euch darauf, Eure Anordnungen sollen mir heilig

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