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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Draußen in der Januarnacht grollte der Sturm und peitschte die Schneeflocken an die Fenster. Manchmal fuhr ein Wagen schellenklingelnd vorüber. Es war Karnevalszeit und die Menschen durchtanzten die Nächte. Der Wind trug ab und zu verirrte Musikklänge bis an das Ohr der einsam Wachenden. So war ihr ganzes Leben lang, immer nur aus weiter Ferne, wie ein verhallender Laut, die Kunde von einem lachenden, sonnigen, genußfrohen Leben, irgendwo da draußen in der Welt, zu ihr gedrungen.

Wie manche Nächte hatte sie so gesessen in stillem Lauschen und Sorgen: Wird es morgen besser sein? Fällt die Temperatur? Schläft er ruhiger?

Sie vergaß fast, daß es nicht ihr Vater war, der da drinnen lag, auf dessen schwere Atemzüge sie horchte. Ihr Schicksal schien immer das Gleiche von ihr zu fordern. Mit einem jähen Schrecken durchrieselte es sie plötzlich, als sie den Ehering an ihrer Hand fühlte.

Das war heute ihr Hochzeitstag gewesen!


Die Verschlimmerung in dem Befinden des Regierungsrates hatte das eine Gute, daß sie den beiden Menschen, die nun Mann und Frau hießen und sich dennoch völlig fremd waren, über die peinliche Befangenheit ihres Zusammenseins hinweghalf, die sie sonst wohl drückender empfunden hätten.

Dem hilfsbedürftigen Kranken gegenüber konnte von der mädchenhaften Zaghaftigkeit, die Hedwig sonst gezeigt, wenn sie ihm nur die Hand gab, unmöglich die Rede sein. Als es ihm nach einigen Tagen wieder besser ging und er wenigstens für Stunden das Bett verlassen konnte, war er schon so an seine Pflegerin gewöhnt, daß er es ganz natürlich fand, sich von ihr führen, einwickeln, bedienen zu lassen. Er konnte sich nur freuen über die gute Wahl, die er getroffen hatte. Hedwig schien wirklich zu den Frauennaturen zu gehören, denen es Bedürfnis ist, sich für einen Menschen mühen und plagen zu müssen, die in der Aufopferung ihr Glück finden. Es lag nun ein ganz zufriedener, heiterer Ausdruck auf ihrem Gesicht und sie blühte ordentlich auf in dem Krankenzimmer.

Freilich, er selbst schickte sie, nachdem ein neues verläßliches Dienstmädchen gefunden worden, täglich ins Freie und drang darauf, daß sie sich zerstreue, ab und zu ein Theater, ein Konzert besuche.

„Du sollst mir dann erzählen. Ich will was Neues hören!“ sagte er, um sie zum Fortgehen zu bewegen.

In der That, es machte ihm Freude, ihre großen, glänzenden Augen zu sehen, wenn sie heimkam. Eine neue Welt öffnete sich im Theater vor ihr, und sie genoß diese mächtigen Eindrücke mit der ganzen Frische einer Kinderseele.

Im März, an einem der ersten Frühlingstage, kam eines Morgens, als Hedwig eben ausgegangen war, Frau Maierhofer, die frühere Haushälterin, in die Wohnung des Regierungsrates und wollte den Herrn sprechen. Das neue Dienstmädchen, das sie nicht kannte, führte sie in sein Zimmer.

Forstner frug ziemlich unwillig nach ihrem Begehr.

„Mein Gott, der Herr Rat hat es ja nicht um mich verdient, aber ich kann’ es halt nicht lassen, daß ich noch so viel Anteil an Ihnen nehm’, Herr Rat. Sie sind mir doch früher ein so guter Herr gewesen. Und deshalb hab’ ich mir die Freiheit genommen, herzukommen. Denn, sehen Sie, das gefällt mir halt gar nicht, daß die gnädige Frau, die Frau Regierungsrätin“ – sie sagte das möglichst höhnisch – „auf der Straße mit einem jungen Herrn herumgeht, während ihr armer Mann zu Haus sitzen muß. Zweimal hab’ ich sie jetzt schon begegnet und gerad’ wichtig hat sie’s gehabt mit dem hübschen jungen Menschen,“

Die rachsüchtige Frau bemerkte mit boshafter Genugthuung, daß ihre Worte auf den Regierungsrat einen peinlichen Eindruck machten. Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, als er nach einer Weile erwiderte:

„Ein Verwandter meiner Frau. Jedenfalls verbitte ich mir Ihre Klatschereien und Verleumdungen. Guten Morgen!“

Frau Maierhofer wußte trotzdem, daß sie nicht umsonst gekommen war, daß der Hieb saß.

Er saß in der That.

Wenn Hedwig nun etwas länger ausblieb, so sagte er sich mit heimlicher Bitterkeit: Sie unterhält sich wohl recht gut? Wenn sie mit frischem, warmgerötetem Gesicht heimkam, dachte er: Man sieht ihr an, daß sie lustig geplaudert hat. Hedwig erlaubte nicht, daß das Dienstmädchen sie vom Theater abhole, weil sie nicht wollte, daß der Kranke ganz allein bliebe. Wenn Franz dann die ersten Wagen nach Theaterschluß fahren hörte, wartete er mit wachsender Ungeduld auf ihr Kommen. Die Viertelstunden, die Minuten dehnten sich so lang in seiner einsamen Stube, gaben so viel Raum für die schlimmsten Gedanken, die peinlichsten Vorstellungen. Eine Frage, eine Anspielung kam nicht über seine Lippen. Er fürchtete sich ordentlich vor einer Bestätigung seines heimlichen Mißtrauens. Was wußte er eigentlich von ihr? Er kannte sie ja kaum. Er kannte überhaupt die Frauen nicht. In Büchern hatte er wohl gelesen, daß sie falsch seien und ihre wahren Empfindungen zu verbergen wissen. Vielleicht war ihre Schüchternheit, ihre kindliche Unerfahrenheit nur eine Maske!

Ein brennendes Gefühl, ein Seelenschmerz quälte ihn nun in der kranken Brust, obwohl er geglaubt hatte, es seien alle heftigen Regungen in ihm abgestorben.

Es ging wochenlang so fort; unausgesprochen, bald dumpfer, bald heftiger peinigte ihn der Verdacht.

Einmal, als Hedwig lange nicht nach Hause kam, trat er an das Fenster; öffnete es und blickte hinaus. Die Sonne schien warm, daß er sich einige Augenblicke lang von ihren Strahlen überglühen ließ. Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, wieder einmal frische Luft einzuatmen. Und wie er nun hinabschaute auf die helle leuchtende Straße, die funkelnden Fenster, das Menschentreiben, das so lustig in dem Frühlingsglanz vorbeiwogte, da packte ihn plötzlich ein wilder Neid auf alle, die sich bewegen, die gesund und frisch dahinlaufen konnten, die nun mit gesundem Appetit zu ihrem Mittagsessen eilten – der Neid des Gefangenen, des Ausgestoßenen, des Verurteilten.

Er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht aufzuschluchzen, überwältigt von Jammer über sein Elend.

In diesem Augenblick sah er Hedwig in ihrer altmodischen Trauerkleidung um die Ecke biegen. Wahrhaftig, sie war nicht allein! An ihrer Seite ging ein schlanker junger Mensch in einem hellen Sommeranzug mit ungewöhnlich langem Haar und einer Wagnermütze auf dem Kopf. Sie schienen sich trefflich zu unterhalten; der Begleiter sprach wenigstens sehr lebhaft und Hedwig ging ganz langsam, als wollte sie den Weg zu ihrem Haus möglichst hinauszögern.

Franz zog sich vom Fenster zurück. Er saß wieder in seinem Lehnstuhl, als Hedwig eintrat. Er fühlte, daß er vor Erregung zitterte, und mußte erst eine Weile warten, ehe er mit der Ruhe, die ihm nötig schien, fragen konnte: „Wer war der Herr, mit dem du eben gingst?“

„Ein Musiker, der zuweilen meinen Vater besuchte,“ erwiderte sie rasch. Er meinte zu bemerken, daß sie verlegen geworden war.

Sie sagte nicht mehr und er frug auch nicht weiter. Seine Phantasie half ihm die Lücken ausfüllen; in ein paar Sekunden, stand der kleine Roman fertig in seinem Kopf.

Der junge Musiker, der zuweilen ihren Vater besuchte, war der einzige Mensch, den sie überhaupt zu sehen bekommen hatte. Kein Wunder, daß sie sich für ihn interessierte. Sie war ja so jung. Und ihm gefiel sie wohl mit ihrem Nonnenscheitel, trotz ihrer drolligen Kleider aus den sechziger Jahren. Er hatte vielleicht nicht viel Damenbekanntschaften. Sie liebten sich; aber „er war Musiker und sie hatte auch nichts“. Warten mußten sie auf alle Fälle, und so war sie denn die Frau des Kranken geworden, der ja doch nicht lange mehr leben konnte. Wenn sie dann Witwe sein würde, hatte sie wenigstens eine hübsche Hauseinrichtung. Daß die Pension, die er ihr hatte zuwenden wollen, bei einer Wiederverheiratung verloren gehen würde, hatte sie wohl nicht bedacht.

Sein bitterer Groll war einer tiefen ergebungsvollen Trauer gewichen. Er sah die Stunde herannahen, in der er sie bitten konnte, ihm zu vertrauen, ihm rückhaltlos die Wünsche ihres Herzens zu gestehen. Freilich die Stimmung wechselte. Manchmal konnte er seine Reizbarkeit ihr gegenüber nicht beherrschen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_370.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)