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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

erfahrungsgemäß am häufigsten seine Opfer. Und doch schien keiner jetzt an das Stockhaus und seine verzweifelten Insassen, keiner an den Böhlauer Trieb und die lodernden Scheiterhaufen zu denken. Es war wie im vierzehnten Jahrhundert beim Wüten des Schwarzen Todes, von dem die Chroniken so Schauderhaftes und kaum Begreifliches überliefert haben. Ganze Dörfer und Städte waren damals entvölkert worden; aber je länger die Pest währte, um so gleichgültiger sah ihr die Menschheit ins Angesicht.

Nun, vielleicht that man auch diesem und jenem Unrecht, Wenn man ihn für mattherzig und abgestumpft hielt. Es bedurfte nur eines machtvollen Anreizes, um ihn zum thatkräftigen Zorn und zum Widerstand zu entflammen. Der Aberglaube war leicht besiegt, wenn die Angst um das eigne Leben die Aufklärerin spielte. Es mußte den Leuten nur recht zum Bewußtsein kommen, daß keine Untadligkeit des Lebenswandels, kein Ansehen und keine christliche Tugend vor dem Blutrichter schützte; daß der Wahnwitz der Malefikantenverfolgung ebenso wahllos traf wie der Schwarze Tod, unbekümmert um den himmelschreiendsten Mangel an Ueberführungsmomenten.

Doktor Ambrosius strich sich mit der Hand über die Stirn. Der furchtbare Widersinn des ganzen Verfahrens packte ihn wie mit Geierkrallen. Sein Kopf schmerzte.

Da ging plötzlich ein sonderbares Wogen und Wallen durch die abendfeiernden Menschen da drunten. Die Leute auf den Steinbänken erhoben sich und reckten die Hälse. Die Paare am Brunnenrand unterbrachen ihr Zwiegespräch. Viele von denen, die schwatzend umhergeschlendert, machten erschrocken Halt oder strömten halb neugierig, halb teilnahmsvoll dem Hause zu, aus dessen Obergeschoß Doktor Ambrosius eben jetzt herab auf den Markt sah. Die Wahrnehmung berührte ihn peinlich. Er beugte sich vor, um die Ursache der seltsamen Bewegung ausfindig zu machen. Nicht lange blieb er im unklaren. „Die Rutenknechte!“ scholl es von Mund zu Munde. „Die Häscher des Malefikantengerichts!“ Ab und zu geriet ein zaghaftes Stocken in die heranströmende Menge. Dann aber drängte man wieder vor, bis die Schar, die sich da vor der Thüre des Zunftobermeisters versammelt hatte, nach etlichen Hunderten zählte.

Die Rutenknechte! Die Söldlinge des Balthasar Noß! Was führte diese Vermaledeiten hierher in das friedliche Heim des Schreiners, zur frommen Brigitta, zur stillen, harmlosen Elma? Oder galt ihr Besuch gar ihm, dem Bewohner des Obergeschosses? Unter dem Blutregiment des Noß war alles denkbar, wenngleich ja die Wahrscheinlichkeit nicht dafür sprach, daß man so ohne jeglichen Anhaltspunkt den beliebtesten und deshalb auch einflußreichsten Arzt des Gemeinwesens behelligen wurde.

Doktor Ambrosius ergriff sein Barett und stieg eilends die Treppe hinab. Da tönte ein lautes, herzzerreißendes Angstgeschrei an sein Ohr. Die da so jammerte, war die Ehewirtin des Zunftobermeisters. Zwei von den Stockhausknechten hielten sie straff bei den Händen gepackt. Zwei andere Häscher zeigten dem Hausherrn die Spitzen der Hellebarden. Sie schienen zu fürchten, der Mann möchte in seiner Verzweiflung Gewalt brauchen. Aber Karl Wedekind, der sonst wahrlich keiner der Feigsten war, stand beim Anblick dieses furchtbaren Ereignisses wie gelähmt. Nur sein Kinn schlotterte unaufhörlich und die Fäuste zuckten ihm krampfhaft an den schlapp herniederhängenden Armen. Die kleine Elma lag ohnmächtig auf den Steinfliesen.

„Glaubt’s nicht, glaubt’s nicht!“ wimmerte Frau Brigitta, während die Knechte sie ungestüm nach der offenstehenden Hausthür zerrten. „Gott der Allmächtige weiß, daß ich nur ihm in herzlicher Treue gedient habe, seit ich am Leben bin. Ich eine Hexe! Ich eine Buhlin des Teufels! O du meine geliebte Mutter unter der Erden, hilf mir und rette mich! O du mein teurer Heiland, Herr Jesus Christus, deck’ mich in Gnaden mit deinem Mantel!“

„Schweigt und widersetzt Euch nicht länger!“ brüllte der Obmann der Häscher. „Wenn Ihr unschuldig seid, so wird sich’s ja ausweisen.“

In diesem Augenblick kam Doktor Ambrosius herzu. Obschon er sich der Gefahr seiner Handlungsweise vollauf bewußt war, drängte ihn doch sein ehrliches Herz, ein gutes Wort für die Beschuldigte einzulegen und sie wenigstens hier vor Tätlichkeiten zu schützen. „Verzeiht!“ wandte er sich mit heimlich zitternder Stimme zum Obmann. „Irrt Ihr Euch nicht am Ende in der Person? Diese ehrsame Frau ist die Gattin des Zunftobermeisters Karl Wedekind und in ganz Glaustädt bekannt als eine fromme, gerechte und gottwohlgefällige Christin.“

Der Obmann, ein schwarzhaariger Kerl mit blöder, zurückfliegender Stirne, grinste dem jungen Arzt höhnisch ins Angesicht.

„Ihr meint’s wohl gut,“ sagte er achselzuckend, „aber Ihr täuscht Euch. Wartet nur den Prozeß ab, dann werdet Ihr Augen machen. Freilich ist sie das Weib des Schreiners, aber der gute Thor’ ahnt nicht, wie’s die Verruchte getrieben hat. Der Kleinweiler, wißt Ihr, der Lynndorfer, der jetzt verurteilt ist, hat auf der Folter bekannt, daß auch die Wedekindin letzte Walpurgisnacht auf dem Herforder Steinhügel war.“

„Unmöglich!“ fuhr Doktor Ambrosius heraus.

„Unmöglich? Es steht ja im Protokoll.“

„Dieser Lynndorfer Bauer hat rein den Verstand verloren! Frau Wedekind steht ja fast im Geruche der Heiligkeit! Jeden Sonntag, den Gott werden läßt, geht sie zum Abendmahl.“

„Ja, das sind so die alten Kniffe,“ lachte der Obmann. „Je verderbter die Hexe, um so frömmer nach außen hin. Der Böse selbst rät seinen Schützlingen solche Verstellung und freut sich diebisch, wenn dann die guten Christen getäuscht werden. Uns aber prellt man nicht wie das leichtgläubige Volk. Herr Balthasar Noß versteht sich darauf, das muß ihm der Neid lassen!“

„Würdet Ihr nicht die Frau gegen Bürgschaft frei geben? Ich bin fest überzeugt, daß hier gleichwohl ein Irrtum vorliegt. Laßt mich für die Beschuldigte gut sagen! Der Rat dieser Stadt kennt mich. Doktor Gustav Ambrosius zählt nicht zu denen, die etwa geneigt wären, einer Verbrecherin Vorschub zu leisten! Glaubt mir, die Sache wird sich schon aufklären!“

„Thut mir leid! Zu alledem hab’ ich kein Recht. Meinen Befehl muß ich ausführen. Denkt Ihr, daß es was helfen wird, gut, so wendet Euch an Herrn Balthasar Noß. Aber ich fürchte sehr, daß Ihr umsonst lauft.“

Während Ambrosius sprach, hatte Frau Wedekind ihr entsetzliches Wimmern und Wehklagen eingestellt und mattleuchtenden Blickes ihm zugehört. Jetzt, da der junge Arzt traurig zurücktrat, hub sie von neuem an.

„Nein, nein, nein!“ schrie sie verzweifelt. „Bei Gott dem Allwissenden, ich hab’ keinen Teil daran! O, ihr Lästerzungen! Wie sollt’ ich wohl meinen Herrn und Heiland dahingeben für den abscheulichen Satan und meine Himmelskindschaft gegen die ewige Pestilenz! O du meine herzliebe Mutter unter der Erden! Ach, ich vergehe! Erbarm’ dich meiner, du treuer Jesus, der du am Kreuze für uns gestorben bist! Rette mich, allgütiger Heiland, um deines vielteueren Blutes willen!“

Die Rutenknechte schoben die unglückliche Frau nun trotz ihres Wimmerns und Sträubens derb über die Schwelle.

„Faßt Euch!“ rief Doktor Ambrosius der Unglücklichen nach. „Es soll für Euch alles geschehen, was möglich ist! Und betet zu Gott, daß er Euch Standhaftigkeit verleihe! Die Wahrheit soll und wird an den Tag kommen.“

Er glaubte das selbst nicht. Er wußte, wie höchst geringe Aussichten der Malefikantenprozeß überhaupt bot. Vollends nun hier vor den Schranken des unerbittlichen Balthasar Noß! Unter dem Vorsitz dieses berüchtigten Tribunalsherrn war in Glaustädt noch niemals eine Freisprechung erfolgt, geschweige denn eine Entlassung.

Ein großer Volkshaufe schloß sich dem traurigen Zug an, teils müßige Gaffer, die selbst da noch Befriedigung spüren, wo den Mitmenschen das Elend ereilt, teils Leute, denen der Vorfall wirklich nahe ging. Etliche, die von der Schuldlosigkeit der Verhafteten überzeugt waren und sich der Furcht überließen, das gleiche Unheil könne demnächst bei ihnen selbst anpochen, seufzten im stillen und bäumten sich heimlich auf gegen die Obmacht des Blutrichters. Viele aber, zumal die Weiber, stießen die heftigsten Schimpfreden aus, warfen der „Unholdin“ zahllose Missethaten und höllische Tücken vor und gebärdeten sich im Kundgeben ihres plötzlich erwachten Zornes schlimmer als der boshafteste Inquirent.

Brigitta Wedekind hörte unter dem Anprall dieser Feindseligkeiten zu klagen auf. Bis dahin hatte sie, wie sie glaubte, in ihrer Vaterstadt nur Freunde gehabt. Jetzt mit einem Mal

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