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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Aus Mitleid.

Novelle von Emma Merk.

Regierungsrat Forstner ging an diesem Nachmittage einen ganz ungewöhnlichen Weg nach der Vorstadt im Nordosten Münchens. Es war ein seltenes Ereignis, wenn er einmal seine gleichmäßige Stundeneinteilung änderte. Sonst begab er sich mit solcher Pünktlichkeit ins Bureau, machte so genau zur selben Zeit seinen Nachtisch-Spaziergang durch den Hofgarten und die Maximilianstraße, daß man nach seinem täglichen Erscheinen die Uhr hätte richten können. Er war etwa vierzigjährig, ein mittelgroßer, etwas zur Körperfülle neigender Mann, mit einem gutmütigen Ausdruck des vollen brünetten Gesichtes und einem kindlich treuherzigen Blick aus braunen frischglänzenden Augen.

Sein Vorgesetzter, der Justizminister, hielt große Stücke auf den Regierungsrat und nannte ihn seine rechte Hand. Forstner besaß auch einen Arbeitseifer und eine Pflichttreue, in denen es ihm nicht leicht ein anderer gleich that. Sein Amt bedeutete für ihn den Inhalt seines Daseins; es mußte ihm Weib und Kind und Gesellschaft ersetzen, er kannte nichts anderes als seinen Beruf.

Früher hatte er mit seiner Mutter zusammengewohnt, einer jener gefährlichen Egoistinnen, die mit sanfter, weinerlicher Stimme und scheinbarer Bescheidenheit und Unterwürfigkeit weichherzige Männer vollständig zu beherrschen wissen. Sie war so zart, sie konnte mit so thränenreichen, schmerzerfüllten Augen über die leiseste Vernachlässigung klagen, daß Franz, in der Sorge, ihr weh zu thun oder sie irgendwie aufzuregen, früh verzichten lernte, seine Jugendfreiheit zu genießen, und sich ganz in das mütterliche Heim einspinnen ließ. Von der jüngeren Schwester verhätschelt und in Anspruch genommen, war er wenig mit Fremden zusammengekommen und in Gesellschaft schüchtern und ungewandt geblieben.

Als die Mutter gestorben war, hatte seine Schwester zwar hoch und heilig versichert, sie würde immer bei ihrem Bruder bleiben, sich aber bald danach verheiratet. Er war sogar gezwungen gewesen, ihr sein eigenes kleines Kapital vorzustrecken, damit die Ehe mit dem Gutsbesitzer Bergmann, der um sie warb, zu stande kommen konnte. Aber die Freiheit kam für ihn zu spät. Nun hielt ihn die Macht der Gewohnheit schon fest gefangen. Er kannte auch niemand. Er fühlte sich ungewandt im Verkehr mit Damen und wies alle Bemühungen, die von seiten kluger Mütter gemacht wurden, ihn in ihren Familienkreis zu ziehen, mit ängstlicher Scheu zurück.

Auf Wunsch des Ministers war er heute von seinem gewohnten Spazierweg abgewichen.

„Bitte, lieber Regierungsrat, möchten Sie sich nicht gelegentlich nach unserem Sekretär Rautenbach erkundigen,“ hatte Excellenz gesagt. „Der Mann ist seit Wochen krank. Er wird es Ihnen gewiß hoch anrechnen, wenn Sie, auch in meinem Namen, nach seinem Befinden fragen würden. Ich weiß auch nicht, – er ist vielleicht in schlechten Verhältnissen, man könnte doch etwas für ihn thun!“

Der Wunsch des Ministers war für Forstner ein Befehl. Er wollte schon am selben Nachmittage Bescheid bringen.

Das Haus, in dem Sekretär Rautenbach wohnte, lag weit draußen, in fast ländlicher Umgebung. Ringsum Gärten mit Gemüsebeeten, ein paar Oekonomiegebäude; davor eine ungepflasterte Straße, auf der Kinder hin und her tollten; gegenüber eine Wiese mit aufgehangener Wäsche.

Durch ein Zaunthürchen trat man in den Hof, in dem ein Apfelbaum blühte.

Erst geraume Zeit, nachdem Forstner. geklingelt, wurde ihm geöffnet. Ein junges Mädchen stand ihm sehr verlegen, mit erschrockenen Augen gegenüber. Als er seinen Namen und Titel nannte, machte sie einen altmodischen Knix und öffnete, mit allen Zeichen der Aufregung, die Thür zu einem kühlen, ziemlich leeren Zimmer, in dem aber ein paar gute Kupferstiche hingen und eine große Bibliothek ihren Platz hatte!

Während sie sehr verwirrt und schüchtern auf einen Stuhl deutete und den Regierungsrat mit ängstlicher, sanfter Stimme bat, etwas warten zu wollen, bemerkte dieser, daß das junge Mädchen, welches wohl Rautenbachs Tochter war, einen ganz merkwürdig altmodischen Anzug trug. Forstner war ja durchaus kein Kenner in Damentoiletten, aber die glatten engen Aermel, der unkleidsame runde Ausschnitt, der den langen Hals frei ließ, und die harte blaue Farbe des Kleides fielen ihm doch auf. Das ohne alle Wellen und Löckchen, glänzend glatt über die Ohren gestrichene, hellbraune Haar gab ihr dabei etwas Nonnenhaftes und ließ ihr Gesicht sehr schmal und lang erscheinen.

Nach einer Weile wurde er in ein recht freundliches sonniges Zimmer geführt, in dem der kranke Sekretär sein Lager hatte. Forstner war immer freundlich gegen seine Untergebenen, aber er hatte sich um den Mann, der nur Schreiberdienste auf dem Bureau versah, nicht viel gekümmert. Rautenbach schien ein wunderlicher, verschlossener Kauz, der im Dienst nie eine Silbe mehr sprach, als er unbedingt mußte.

Als der Regierungsrat nun auf das Lager zuschritt, von dem sich der kranke Mann aufzurichten suchte, sagte er sich sofort, daß ihm sein Minister hier eine sehr traurige Aufgabe übertragen habe. Der arme Teufel trug den Stempel des Todes auf der scharf vortretenden wachsgelben Stirne.

Mitleidig bat Forstner ihn, liegen zu bleiben, und gab sich Mühe, einige möglichst überzeugende Trostesworte zu finden, die den hoffnungslosen Eindruck verschleierten, den ihm der Kranke machte. Auf dem hageren Gesichte Rautenbachs lag ein Ausdruck seelischer Qual, unruhig, ängstlich blickte er sich nach seiner Tochter um.

„Bitte, Hedwig,“ sagte er dann heiser, „geh’ du ein wenig in den Garten.“

„Ja, Vater, wie du willst!“ Sie rückte ihm noch die Kissen zurecht, damit er sich etwas aufsetzen konnte, brachte ein Glas Wasser und Tropfen für einen etwaige Hustenanfall, stellte die Klingel neben das Bett, strich dann mit rührender Zärtlichkeit dem armen Kranken das ergraute Haar aus der Stirne und huschte mit einer linkischen Verbeugung gegen den Fremden aus der Thür.

Sie verstand es, lautlos wie ein guter Geist, durch das Krankenzimmer zu gleiten.

Forstner war es recht peinlich zu Mute, als nun die bleichen Hände des Sekretärs nach seiner Hand griffen und die fieberhaften Augen ihn anblickten in verzweifelter Herzensangst.

„Herr Regierungsrat! Sie sind der einzige Mensch, der, seit ich krank bin, nach mir fragt! Ich habe keine Verwandten, keinen Freund! Sie müssen es mir vergeben, wenn ich mit Ihnen von meinem schwersten Kummer rede,“ stieß er in Hast hervor, als fürchtete er, es möchte ihm nicht Zeit vergönnt bleiben, zu Ende zu sprechen.

„Gewiß, lieber Rautenbach. – Wenn ich etwas für Sie thun kann! – Regen Sie sich nur nicht auf! Ich bleibe hier und höre Ihnen zu. Reden Sie nur ganz leise, ganz langsam!“

Dem Regierungsrat that das gute Herz sehr weh vor diesem Menschenelend, dem gegenüber er sich so ratlos fühlte.

„Es handelt sich um meine arme Hedwig. Was soll aus ihr werden, wenn ich die Augen schließe? Sie hat keine Ahnung, was für eine untergeordnete Stellung ich im Ministerium habe, sie meint, ein Sekretär, das wäre ein hoher Beamter. Sie weiß so wenig vom wirklichen Leben wie ein kleines Kind.“

„Aber warum diese Täuschung? Ich begreife nicht –“ warf Forstner ein.

„Ach sehen Sie, Herr Regierungsrat, wer mich in meiner Jugend kannte, hätte es sich nicht träumen lassen, daß ich einmal so enden würde. Schon in der Schule erwarteten die Kameraden Besonderes von mir. Zu allem verriet ich Talent, zum Musiker, Maler, Dichter! Alles das bin ich gewesen. Dabei hohe Ideen, das Größte, das Idealste im Sinne! Immer ein Schwärmer – ein Narr! Viel Größenwahn, viel Selbstüberschätzung und wenig Energie. Daran bin ich zu Grunde gegangen!

Das sagt sich so in ein paar Worten. Aber wie viel Jahre voll bitterer Erfahrung vergingen, bis der schöne große Glaube

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_352.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)