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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

muß recht sehr um Entschuldigung bitten. Ich hätte das sehen sollen, Ihr wart im Begriff, einen Gang zu machen.“

„Anfangs, ja,“ entgegnete Hildegard. „Ich dachte ein Stücklein hinauszuwandern bis zum Grossheimer Forste. Aber wie ich den Staub sah, hab’ ich mich anders besonnen. Und wenn ich von Eurer gemessenen Zeit sprach, mein’ ich’s im Ernste. Ganz Glaustädt weiß ja, daß Ihr jetzt schier überlastet seid.“

„Freilich. Aber man gönnt sich doch auch bei Gelegenheit einen Ausspann. Nun, der heutige Tag hat allerdings noch mehrfache Anforderungen. Der Fieberfall des Herrn Lotefend ist nicht der einzige. Es liegt so was in der Luft. Darf ich Euch bitten, vielehrsame Jungfrau, mich Eurem werten Herrn Vater freundschaftlichst zu empfehlen? Und nun – ich grüße Euch!“

Er lüpfte von neuem sein dunkles Sammetbarett und bot ihr die Hand. Hildegard Leuthold schlug ohne Zimperlichkeit ein, sagte: „Vergnügten Abend!“ und drückte das schmiedeeiserne Thor langsam ins Schloß. Während Ambrosius brennenden Angesichtes stadteinwärts ging, nahm sie ihr blaues Gewand zierlich empor und schritt an der Hausthüre vorbei nach dem Garten.

Dieser Garten, zum Teil aus Nutzbeeten, zum Teil aus Parkanlagen im Stil von Versailles bestehend, umfaßte vier oder fünf Morgen Landes zwischen dem Haus und der Grossach. In seiner Mitte befand sich ein kleines Granitbecken mit zahllosen Goldfischen. Ueber die Hecke am Südrand sah man hinüber in die ähnlich hergerichteten Nachbargärten.

Dort oben auf dem rebenumrankten Altan saß noch immer der steinreiche Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend. Er grüßte herunter. Hildegard Leuthold verneigte sich. Die Leutholds hielten mit Henrich Lotefend und seiner Gattin Mechthildis freundnachbarlichen Verkehr. Hildegard fand den sechsundvierzigjährigen Mann, der so überaus launig von seinen Fahrten und Abenteuern in Frankreich, Italien und Oesterreich zu erzählen wußte, sehr unterhaltsam und fühlte sich von seiner väterlich wohlwollenden Art recht angezogen. Mehr als einmal, wenn sie den Goldfischen Futter gab oder bei ihren Beeten zu thun hatte, war der immer noch stattliche Herr langsam zur Weißdornhecke getreten, hatte ihr eine Weile nachdenklich zugeschaut und dann ein Gespräch mit ihr angeknüpft, in dessen Verlauf sie wohl ihre augenblickliche Arbeit vergaß und zutraulich näher kam. Henrich Lotefend kümmerte sich schon längst nicht mehr um sein großartig blühendes Tuchgeschäft. Er hatte nur noch den Hauptanteil am Erträgnis und lebte im übrigen ganz seinen Liebhabereien, besonders der Alchimie und der Erdkunde. Auch trieb er ausgiebige Blumenzucht, wie er denn überhaupt ein großer Freund der Natur war. Hildegard bedauerte jetzt im stillen daß der lebhafte, warmherzige Mann, der im Winter so eifrig für das Erwachen des Frühlings geschwärmt hatte, bei so herrlichem Maiwetter zur freudlosen Haft in der Krankenstube verurteilt gewesen. Eigentlich mußte sie doch den Aermsten zu seiner Wiedergenesung beglückwünschen. Jetzt eben wollte sie ihm ein artiges Wort hinaufrufen. Aber da war er bereits im Innern des Hauses verschwunden. Nun, dann morgen vielleicht!

Der halb unbewußte Entschluß, den Hildegard Leuthold vorhin schon gefaßt hatte, als sie den wirbelnden Staub der Landstraße wahrnahm, wurde jetzt ohne Verzug ausgeführt. Wenn sie hier auf der Borkenbank saß oder dort unter den Laub-Arkaden, dann konnte sie fest darauf rechnen, daß in kürzester Frist Gertrud Hegreiner mit ihrem rothbraunen Gartenspinnrad neben ihr Platz nehmen und ihr allerlei vorjammern würde über die Ungeschicklichkeit des Hausmädchens Therese oder die jüngsten Streiche des kleinen Florian. Hildegard hatte die brave Wirtschafterin ja herzlich gern, aber seit einiger Zeit war sie gegen den merkwürdigen Hauch von Kleinlichkeit und Poesielosigkeit, den Gertrud ausströmte, empfindlicher als sonst. Sie fühlte bestimmt, Gertrud Hegreiner paßte nicht recht in die Stimmung dieses wonnigen Maiabends.

Hildegard Leuthold schritt also geradeswegs auf das Ufer der Grossach zu. Die schwarzgrün gestrichene Lattenthür öffnend, stieg sie die unregelmäßigen Stufen einer bemoosten Steintreppe hinab. Hier lag an dem eisernen Ringe der Strandmauer ein zierliches Boot. Hildegard zog das Fahrzeug her, sprang elastisch hinein und löste die Kette. Dann ergriff sie die Ruder. Mit sicherer Hand trieb sie die kleine Gondel an den Landhausgärten vorüber, dem Lynndorfer Gehölz zu, wo sich die Grossach, in östlicher Richtung abbiegend, zwischen den hochragenden Stämmen uralter Eichen, Buchen und Linden verlor.

Hildegard schwelgte bei dem geruhigen Gleiten auf den hellblinkenden Flußwellen. Die Häuser da links, vom Goldglanz einer funkelnden Sonne bestrahlt, zogen dahin wie flammende Traumbilder. Hier und dort hing über die leuchtenden Strandmauern ein märchenhaft flimmernder Birkenzweig oder das üppige Blattwerk vorquellender Weinranken, die bis hinab in die Flut tauchten. Aus dem letzten der Gärten scholl fröhlicher Kinderlärm und leise Musik. Dann allmählich ward eine tiefe, heilige Stille ringsum. Es war wie die Vorahnung der nahen Waldeinsamkeit. Und nun legten sich breit die ersten Baumschatten über den Fluß. Der Forst that sich auf mit seinen hehren domartigen Wölbungen. Rechts und links wogten die Binsen oder blühten zu vielen Tausenden die Vergißmeinnichtblumen.

Durch eine Lichtung am Südufer sah man die fernen Ziegel- und Strohdächer von Lynndorf. Bläulicher Rauch kräuselte sich über den Schornsteinen. Das lag so schmuck und traulich im Sonnenschein, als gäbe es dort weder Sorge noch Elend. Hildegard dachte des unglücklichen Fronbauern, der so unerwartet sein Dörfchen am Waldesrand mit dem Kerker des Stockhauses vertauscht hatte. Tiefes Mitleid erfaßte sie und ein bängliches Weh. Dann aber schob sich das hundertjährige Eichengehölz wieder vor … mit Gewalt riß sich ihr starkes Herz von den trüben Gedanken los. Hier draußen herrschte der wahre himmlische Gottesfriede. Fort also mit aller Trübseligkeit! Der Mai war so kurz, und kurz wie der Mai war die Jugend, ja das ganze menschliche Dasein. Vita nostra brevis est – kurz ist unsre Lebenszeit – hieß es in dem schönen Studentenlied, das man dem Vater beim Abschied von Wittenberg unter den Fenstern gesungen. Sie ruderte frisch weiter, doch ohne sich anzustrengen. Das Wasser plätscherte kaum vernehmlich am Kiel, einschläfernd wie ein leise gesummtes Wiegenlied. Die Maiblumen an ihrem Busen dufteten süß, obgleich sie schon etwas die Kelche senkten. Zwei Rehe traten äsend zwischen den Hochstämmen des Ufers hervor. Beim Nahen der Gondel hoben sie langsam die feinen Köpfe und äugten wie neugierig nach dem schönen Mädchen da in dem gleitenden Fahrzeug. Aber sie flüchteten nicht.

Jetzt war Hildegard an die schönste Stelle des ganzen Flußlaufes gelangt. Die Grossach beschrieb hier abermals eine Wendung und sah daher aus wie ein stiller weltabgeschiedener Teich, vom Walde umfriedet wie eine Edelperle von ihrer Muschel. Der Platz lud unwiderstehlich zum Schwärmen und Träumen ein.

Das war heute zum erstenmal, daß Hildegard so weit ins Gehölz vordrang. Ganz hingerissen von diesem wunderherrlichen Bilde, entschloß sie sich, hier eine Weile zu rasten. Sie trieb ihren Kahn mit einem kräftigen Anprall seitwärts, so daß die Kielspitze weit am niedrigen Ufer hinanfuhr. Nachdem sie zum Ueberfluß noch die eiserne Kette um den Strunk einer abgebrochenen Weide geschlungen, streckte sie sich in der vorderen Hälfte der Gondel behaglich aus, legte die Hände unter das blaue Sammethäubchen und überließ sich im Anblick der leise bewegten Wipfel einem unsäglichen Wohlgefühl.

Zehn Minuten hatte sie so geruht, als der gedämpfte Schall heraneilender Schritte sie aus ihrer Versunkenheit aufschreckte. Sie kannte zwar keine Furcht. Wertsachen trug sie nicht bei sich. Ihr einziger Schmuck war die Handvoll Maiblumen, die ihr am Mieder dufteten. Auch galt die Umgebung Glaustädts ja seit Vernichtung der großen Räuberbande im Vogelsberg für vollständig sicher. Dennoch fuhr Hildegard Leuthold zusammen. Es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, wie außerordentlich einsam es hier an den Ufern des Flüßchens war, und wie es doch immerhin möglich blieb, daß irgend ein Landstreicher diese Einsamkeit ausnutzte, um ihr mit einer trotzigen Bettelei aufdringlich zu werden. Die Verbindungsstraße der nächsten Dörfer lag weiter südwärts jenseit der Grossach, die Spaziergänger aber

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_342.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)