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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

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Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

(Schluß.)


In einem Zimmer des vierten Stockwerkes in einem Miethause der Christianstraße zu Dresden saß Tante Emilie und wartete auf Aenne, die aus der Musikschule heimkommen mußte. Die alte Dame war heute noch ungeduldiger, als wenn sonst die fünfte Stunde schlug, denn der Postbote hatte ein kleines Paket abgegeben, und außerdem war ein Brief gekommen vom Doktor Lehmann aus Breitenfels. Aenne korrespondierte nämlich mit ihm ganz regelmäßig; jede Woche langte solch ein Schreiben an.

Ja, vier Jahre waren vergangen, seitdem Frau Rat ihrer einzigen Tochter die Erlaubnis zum „Wandeln“ ihrer eigenen Wege gleichsam aufgedrungen hatte, und wahrlich, leichte Wege waren es nicht gewesen. Die alte halsstarrige Frau in dem fernen Bergstädtchen ahnte gar nicht, wie sehr das Herz ihres Kindes sich um sie sorgte und bangte, wie es litt unter der stets verweigerten Annahme seines Besuches. Ein einziges Mal in all der Zeit war Aenne nach Breitenfels gereist, damals, als eine böse Influenza Frau Rat auf das Krankenlager geworfen, und da hatte Aenne sie gehegt und gepflegt mit dem Doktor um die Wette, hatte ihr jede mögliche Stärkung verschafft, hatte mit tausend guten Worten um ihre Gunst geworben; als aber die alte Frau wieder in ihrem Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte, merkte Aenne, daß ihr noch nicht vergeben war, und sie reiste niedergeschlagen wieder nach Dresden, um in der Arbeit, in der Kunst, ihr Leid zu vergessen.

Mit dem Doktor hatte sie das Abkommen getroffen, von ihm wöchentlich über das Befinden der Mutter unterrichtet zu werden, und daß er gern an sie schrieb, dafür sprachen die herzlichen und doch respektvollen Briefe, in denen zwischen jeder Zeile die Versicherung zu lesen war, daß er sie nie vergessen werde trotz allem und allem. Geheiratet hatte er noch nicht, aber Aenne hoffte, daß er die kleine blonde Cousine, die jetzt Tochterstelle bei der Frau Rat vertrat und die ihn heimlich mit aller Inbrunst einer ersten Liebe im Herzen trug, doch noch heimführen werde. „Zureden darf man freilich nicht,“ hatte Aenne zu Tante Emilie gesagt, „ich habe es erfahren, was daraus entstehen kann. Laß nur, er kommt von selber zu dem Entschluß!“

„Er wartet ja doch noch immer auf dich,“ pflegte dann die alte Dame zu erwidern, „armer Mensch!“

Aenne wußte ja zur Genüge, was Warten heißt, Warten in Qual und Ungewißheit, ohne jede Nachricht, ohne Lebenszeichen von dem, auf den man wartet. Sie selbst wollte es so, sie hatte mit einem einzigen Wort eine Annäherung des geliebten Mannes abgelehnt, hatte den Mut gehabt, mit scharfem Messer in seine kranke Seele zu schneiden, damit sie gesunde.

„Ich kann mich nicht an Sie binden, Herr von Kerkow, ich bin selbst schwach und bedarf eines starken Armes, auf den ich mich stützen möchte. Es würde ein trostloses Wandern sein, wollte ich mich jetzt an Sie hängen. Aber, wenn Sie einst wiederkommen wollen als ein Mann der Arbeit, der auf eigenen Füßen steht, in welcher Stellung es auch sei, dann will ich Ihnen folgen. – Bis dahin leben Sie wohl!“

Und ohne ein Wort der Erwiderung hatte er sich daraufhin trotzig abgewandt. Sie begriff heute nicht mehr, wie sie damals so sprechen konnte, so klar, so kalt und entschieden. Sie wußte, es war ein va-banque-Spiel – alles oder nichts! – der letzte Versuch, den Mann aufzurütteln aus seiner Apathie. Ob es gelingen würde? Wer konnte das wissen! Es war gut, daß sie mit Arbeit förmlich überhäuft wurde, denn in jeder müßigen Stunde trat sein Bild vor ihre Augen, das Bild, wie er am Bette des toten Kindes die Arme nach ihr ausstreckte. „Wenn du mich zwingst, zu leben, so bleibe bei mir, Aenne!“

Da, da hatte sie jene Worte gesprochen. Sie wußte jetzt nur, daß er seinen Dienst aufgegeben hatte und hinausgezogen war in das Leben. Wohin? Keine Kunde war ihr gekommen, aber tief in ihrem Herzen, da lebte die Hoffnung. Und wunderbar, je längere Zeit verging, um so größer und leuchtender wuchsen ihr die Schwingen, um so seltener kamen die Stunden des Zweifels, um so bestimmter erwartete sie sein Kommen. Ein glänzendes Bühnenengagement hatte sie wiederum abgewiesen, in dem sicheren Gefühl, Heinz würde sie nicht gern auf den Brettern sehen. Es begriff sie niemand, sie gab sich auch keine Mühe, ihren Entschluß zu erklären. Sie unterrichtete, sie sang in Konzerten und Kirchen, immer von neuem alles begeisternd mit ihrer herrlichen Stimme, ihrer anmutigen Erscheinung. Sie war schlanker geworden und bleicher; sie lebte ja auch gar so wunderlich dahin mit der alten Tante droben im vierten Stock erzählten sich die Menschen. Besuche nahm sie nie an, und was sie nur zu erübrigen vermochte, schleppte sie auf die Sparkasse, sie war nahe daran, zu den Geizhälsen von Profession gezählt zu werden. Aber sie ließ sich gar nicht beirren, und wenn sie in ihrer einfachen weißen Seidenrobe auf dem Podium stand etwas anderes als weiße Seide trug sie nie – so jubelte ihr alles zu und bestürmte sie um eine „Zugabe“, und Aenne bewies, daß sie nicht geizig sei, sie sang drei, vier Lieder über das Programm hinaus.

Von dem Innenleben des Mädchens wußte aber auch Tante Emilie nichts. Sie glaubte, Aenne lebe nur ihrer Kunst und habe den unseligen Liebestraum mit dem ehemaligen Schloßhauptmann von Kerkow längst vergessen. Daß sich das Mädchen noch verheiraten werde, glaubte sie nicht. Warum sollte sie auch? Es war so behaglich hier, Aenne schien so glücklich in ihrem Beruf, und die kleine Häuslichkeit hielt sie, die Tante Emilie, so blitzblank und sauber – ihretwegen konnte es so fortgehen ohne Ende. Nur heute, heute war sie in Unruhe, denn der Brief des Doktors trug den Poststempel Berlin, eine schier unglaubliche Thatsache. Das Paketchen kümmerte die alte Dame nicht, jedenfalls ’mal wieder das Autographenalbum eines Backfischs.

Endlich wurde draußen die Korridorthür geöffnet und im nächsten Augenblick trat Aenne in das Zimmer, ein bißchen müde und abgespannt zwar, aber doch das alte liebe Lächeln um den Mund. „Guten Abend, Tantchen! Wie früh es jetzt schon dunkel wird, und ist erst Ende September!“ sagte sie. Und ein Päckchen Noten auf den dazu bestimmten Schrank legend, setzte sie hinzu: „Ist Nachricht da von Breitenfels?“

„Dort liegt der Brief vom Doktor, Kind, wundere dich nicht, er ist aus Berlin – was in aller Welt will der in Berlin?

Aenne machte verwunderte Augen, setzte sich aber erst recht behaglich in den Lehnstuhl am Fenster, vor welchem die Blumen der alten Dame im frischen Herbstwinde nickten, und nahm die Tasse Thee, die jene ihr brachte. „Ach, siehst du,“ sagte sie herzlich, die runzlige Hand streichelnd, „das ist die schönste Stunde des Tages, so wohlig und traulich, und heute brauche ich nicht ’mal wieder fortzugehen, Tantchen, denn die Konzertprobe im Gewerbhaussaal fällt aus, ich darf nach Herzenslust faulenzen. Aber nun zeig’ ’mal den Brief von unserm Freund her – wahrhaftig, aus Berlin! Und das Paket? Ach, was wird in dem Paket sein – natürlich ein Album, in dem ich mich verewigen soll! Uebrigens, Tantchen, denke dir, Fräulein Hochleitner hat sich in New York verheiratet, mir erzählte es eben eine frühere Schülerin von ihr. Nun aber, was will der Herr Doktor? Dann las sie den Brief still für sich.

„Meine liebe, sehr verehrte Freundin!

Wie kommt denn der nach Berlin? werden Sie sagen, wenn Sie droben in der Ecke den Namen der Reichshauptstadt lesen. Ja, das raten Sie nur ’mal! Des Landes bin ich nicht verwiesen, auf die Brautfahrt habe ich mich auch nicht begeben, denn das bekannte Citat: ‚Willst du immer weiter schweifen etc.?‘ scheint ganz extra für mich erfunden zu sein. Ich könnte Ihnen nun vorlügen, daß der Kaiser mich zu allerhöchst seinem Leibarzt ernannt habe, oder daß ich von einem hiesigen Millionenonkel als Reisedoktor engagiert worden bin, fürchte aber, Fräulein Aennes klare Augen würden finster blicken, und sie sagte dann zu sich selbst ,Er kann doch die Faxen nicht lassen, Gott weiß, was dahinter steckt!’

Drum also heraus mit der Wahrheit, das heißt – erst zur Hauptsache! Mein Rapport über das Befinden Ihrer Frau Mutter war bereits vorgestern fällig, mich hielten indes allerlei Reisevorbereitungen vom Schreiben ab, und außerdem nahm

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_336.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)