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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nr. 20.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

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Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
1.

Am Ufer der Grossach, die das Glaustädter Weichbild nach Süden und Westen zu einfriedigt, standen ums Jahr 1680 vier oder fünf Landhäuser mit schönen baumreichen Zier- und Gemüsegärten. Das kleinste von diesen Landhäusern war seit vorigem Herbst Eigentum des gelehrten Magisters Doktor Franz Engelbert Leuthold, der, aus Glaustädt gebürtig, lange Zeit als Professor der griechischen und lateinischen Sprache an der Hochschule von Wittenberg Ruhm und Ehren gesammelt hatte, bis eine Meinungsverschiedenheit mit zwei ungestümen Kollegen ihm den Wunsch weckte, die neuerdings dornenvolle akademische Lehrthätigkeit aufzugeben und sich zu stillerem Dienste der Musen in seiner alten unvergessenen Heimat ansässig zu machen. Er wohnte jetzt hier mit seiner einzigen Tochter Hildegard und der ehrsamen Wirtschafterin Gertrud Hegreiner, die noch in Wittenberg zu Lebzeiten seiner verstorbenen Frau als Haushelferin bei ihm dienstbar gewesen und sich dann später an der Erziehung des Kindes redlich und mit gutem Erfolge beteiligt hatte.

Es war gegen Ende Mai, zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags. Die braungetäfelte Eckstube des Obergeschosses lag jetzt völlig im Schatten. Auf dem Eichenholzstuhl in der östlichen Fensternische saß die neunzehnjährige Hildegard Leuthold und drehte mit ihren rosigen Fingern den Faden eines lustig schnurrenden Spinnrads. Sie trug ein eng anschließendes hellblaues Wollkleid und eine schmale hellblaue Sammethaube. Unter der Sammethaube quoll reiches, lichtbraunes, welliges Haar hervor, das in zwei langen prächtigen Zöpfen schwer über den Rücken fiel. Glaustädt wußte noch nichts von der phantastischen Unnatur, die jenseit der Reichsgrenze jetzt eben anfing, in turmhohen Frisuren, panzerähnlichen Miedern und bauschigen Reifröcken zu schwelgen. Dank der unnachsichtlich gehandhabten Kleiderordnung des Magistrats herrschte in Glaustädt auf diesem Gebiet ein altfränkischer, konservativer Geist, der unzweifelhaft dem Anmutigen und Malerischen zu gute kam.

Um Hildegard Leuthold herum saßen auf niedrigen Holzschemeln drei Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren, zwei freundliche flachsblonde Mädchen und ein starker, pausbackiger


Stare in der Minnezeit.
Nach einer Originalzeichnung von Adolf Müller.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_325.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)