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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

hübsch deutlich ist es gewesen. Jetzt mußt du ihr sagen, was du für gut findest. Benimm dich vernünftig, ’s ist eine ernste Sache, um die sich’s handelt!“

Mit diesen Worten nahm der Rechtsanwalt den Thürdrücker in die Hand und verschwand, ohne sich auch nur noch einmal nach dem Zurückbleibenden umzusehen. Leo strich sich das schwarze volle Haar aus der Stirn und versuchte, seine wirren Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken, indessen, das war vergebene Mühe, denn er war kaum zwei Minuten allein gewesen, als sich die Thür die vom Korridor ins Zimmer führte, öffnete und Leonie hereintrat, hastig wie jemand, der in eines anderen Auftrag etwas holen will, um sofort wieder zu gehen. Sie hatte Mantel und Handschuhe bereits abgelegt, trug aber noch den Hut auf dem Kopf, einen schönen, malerischen Rubenshut mit dunklen Federn unter dem ihr von der Winterluft sanft gerötetes Gesichtchen wie eine junge Maienrose hervorsah. Sie erkannte den mitten im Zimmer Stehenden nicht sogleich und begann, mit einer leichten Neigung des Kopfes. „Sie verzeihen – ich wußte nicht … Ah, Onkel Zigeuner – du?“

Das sanft gerötete Gesichtchen wurde dunkelrot, die Stimme klang unsicher.

„Ja – ich, meine liebste – meine liebe – – Leonie!“ Er konnte sich nicht entschließen, „Nichte“ zu sagen – es fiel ihm auch zum Glück ein, daß er ihr damals im Herbst, als sie so rasch von Grünholm fortgefahren war, keinen Abschiedskuß gegeben hatte und daß es seine Pflicht sei, das jetzt nachzuholen. Auf die Stirn konnte er sie nicht küssen, der große Hut war ihm im Wege. In seiner Verwirrung küßte er sie auf den Mund, und er fühlte es wie einen elektrischen Schlag durch seinen ganzen Körper, als er das that. Auch sie zuckte zusammen, und dann sahen sie einander scheu von der Seite an, wie zwei Schuldbewußte.

„Wann – wann bist du gekommen?“

„Ich? Er schien sich erst auf die Thatsache besinnen zu müssen. „Laß sehen, es können zwei Stunden etwa sein. Ja – zwei Stunden sind es! Ich bin diesen Morgen gekommen.“

„Da wird sich Mama freuen. Ich will sie rufen, damit …“

„Nein, bitte, nicht!“ Er hielt sie bei der Hand zurück und behielt diese weiche Mädchenhand, wiederum in seiner Verwirrung, in der seinen. Er war bange, sie möchte sie zurückziehen, allein sie that es nicht, vielleicht aus Vergeßlichkeit.

„Willst du dich nicht setzen, Kind? Ich … ich möchte etwas mit dir besprechen!“

„Du – mit mir?“

„Ja! Wundert dich das so sehr?“

Hierauf entgegnete Leonie nichts, aber sie setzte sich gehorsam nieder und er zog seinen Stuhl sehr dicht an den ihren heran und hielt noch immer ihre Hand fest. Ihm klangen plötzlich die Worte seines Schwagers im Ohr, wie Frau Käthe ihm von dem Kultus erzählt hätte, den das Mädchen mit allerlei Dingen, die Onkel Zigeuners Eigentum waren, getrieben, wie sie dieselbe heimlich auf ihr Zimmer genommen und dort zur Erinnerung aufbewahrt, wie sie nachts bitterlich geschluchzt hatte, als er übers Meer gegangen war. Und er hatte keine Ahnung gehabt! Aber freilich, das war damals gewesen – damals! –

„Denkst du noch manchmal an frühere Zeiten, Leonie?“ fragte er halblaut, und er war sich dessen nicht bewußt, wie weich und innig dabei seine Stimme klang.

Das junge Mädchen nickte ein paarmal rasch nacheinander, wie wenn es das oft thäte.

„Und gern, Leonie?“

„Sehr gern, Onkel Zigeuner!“

Es wurde sehr leise gesagt, aber er verstand es.

„War es nicht schön damals?“

„Ja – sehr!“ Dies klang noch leiser.

„Und wäre es nicht noch schöner, wenn es wieder so käme?“

– – Stille – – –

„Möchtest du mir dein Vertrauen schenken, wie du es als Kind immer thatest?“

Ein rascher prüfender Aufblick der Augen – so wundervolle blaue Augen waren es – darauf ein beinahe unhörbares „Ja!“

„Ist es wahr, daß du Krankenpflegerin werden willst?“

Bestätigendes Nicken.

„Fühlst du so brennende Lust dazu?“

„Ich … ich … habe Neigung dafür!“

„Ist diese – diese – Neigung die einzige Ursache, weshalb du dir diesen schweren aufopferungsvollen Beruf erwählt hast?“

Keine Antwort.

„Hast du sie deinen Eltern als einzige Ursache genannt?“

„Ja!“

„Es giebt aber noch eine zweite Ursache? – Soll ich keine Antwort haben, Leonie? Wolltest du mir nicht vertrauen? Habe ich nicht dein Versprechen?“

Aus ihrem Gesicht war jeder Schimmer von Röte gewichen, als sie endlich, nachdem sie mehrmals vergebens zum Sprechen angesetzt hatte, erwiderte: „Ich kann dir in diesem einen Punkt nicht mein Vertrauen schenken!“

„Gerade nicht in diesem einen Punkt? Und gerade nicht mir?“

Das fragte er mehr sich selbst als sie, ihm war, als wäre er lange, lange im Dunkeln gegangen und mit einem Mal führe ein Blitz nieder, und er würde sehend. Immer noch hielt er die kleine Hand in der seinigen, sie zitterte, aber sie zog sich nicht zurück. Er hob plötzlich diese kleine Hand empor und preßte heiß und lange seine Lippen darauf.

„Was thust du, Onkel Zigeuner!“

„Muß es immer und immer Onkel heißen, Leonie? Kannst du nicht eine andere Bezeichnung für mich finden? Kannst du nicht?“

Sie konnte nicht, selbst wenn sie es gewollt hätte! Wie konnte sie reden, wenn er sie in seine Arme nahm und ihr den Mund mit seinen Küssen schloß und ihr die Thränen fortküßte und sie fest, fest an sein Herz drückte, daß sie nichts weiter sah, nichts weiter hörte und fühlte als ihn allein!!

„Hast du mich lieb, mein Herz, mein Leben, mein Glück – hast du mich lieb?“

„Ja!“

„Wie lieb denn?“

„Mehr als alles auf der ganzen Welt!“

„Wie lange schon?“

„Immer, solange ich denken kann!“

„Hast du um meinetwillen keinen andern haben wollen, auch den reichen Freiersmann nicht?“

„Um deinetwillen!“

„Hast du um meinetwillen unverheiratet bleiben wollen?“

„Ja!“

„Und jetzt willst du heiraten?“

„Ja!“

„Leonie! Noch kann ich’s nicht glauben, daß du mein eigen bist, wahr und wahrhaftig und unwiderruflich mein eigen! Kind, wie hab’ ich dich geliebt! Geliebt schon, als du ein kleines, kleines Mädchen warst! Und habe um dich gelitten und bin eifersüchtig gewesen und unglücklich und hab’ es nie zu hoffen gewagt, du, du schönes, süßes, junges Geschöpf, um das sie alle werben, könntest deinen alten, häßlichen, finstern Onkel Zigeuner –“

„Still! Das verbitte ich mir! Weißt du denn, von wem du sprichst? Von meinem Verlobten! Es existiert gar kein Onkel Zigeuner mehr, sondern nur noch Leonie Trautweins Bräutigam, und der heißt Leo Gräfenberg, und der ist – –“

„Na, wenn ihr da drinnen schon so lustig lachen und schwatzen könnt, kann die Sache nicht schlimm stehen! Mit diesen Worten riß der Rechtsanwalt die Thür auf und spazierte, seine liebe Gattin am Arm, wohlgemut ins Zimmer. „Wie steht’s denn, Zigeuner, hast du uns das Mädel bekehrt?“

„Ja – zur Liebe – und zur Ehe! Gustav – Käthe – ob ihr wollt oder nicht – ihr müßt mich zum Schwiegersohn nehmen!“

Es gab Fragen und Ausrufe und Küsse und Umarmungen ohne Ende. Auch ein paar Thränen kamen dazu, aber die wurden vor Freude geweint.

„Gott weiß es,“ sagte Frau Käthe, als sie endlich beim Sekt zusammensaßen „ich hab es nie gedacht! Ich hab’ nur meinem Alten zugeredet, er solle ihn herkommen lassen, damit er, der doch das Kind so geliebt hat, dem erwachsenen Mädchen jetzt Vernunft beibringen! Und was hat er ihr beigebracht? Die reine bare Unvernunft, denn, Kinder, das ist die Liebe, ja, ja macht mir nur Augen! Darum wollen wir aber dennoch unsere Gläser füllen und rufen. Hoch lebe unser Bräutchen! Und hoch ‚Onkel Zigeuner‘!!“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_323.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)