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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

nun sah er, wie sie plötzlich an dem Bettchen niederkniete, wie sie vorsichtig das Kind berührte, dann hastig aufstand, ihren Platz verließ und an das Nebenzimmer klopfte. Im nächsten Augenblick war der Arzt da mit einer brennenden Kerze, die er Aenne zu halten gab, während er sich über das Kind beugte, dann richtete er sich empor und blickte dem jungen Mädchen in die Augen, dazu ein Zucken der Schultern eine Handbewegung, die Heinz jäh emporfahren ließ. Wie hingeweht stand er plötzlich auf der andern Seite des Lagers, leichenblaß, mit verzerrtem Gesicht.

„Was ist’s mit Heini?“ fragte er mühsam.

„Herr von Kerkow,“ antwortete der Arzt erschüttert, „er ist hinübergeschlummert, der Kleine, ohne Kampf, ohne Schmerz.“ Er trat neben den Mann, der, wie verständnislos, die stille kleine Gestalt mit seinen Blicken umfaßte, und legte die Hand auf seine Schulter. „Ich weiß, was das heißt für Sie, Herr von Kerkow,“ sagte er, „aber ich weiß auch, wieviel Schmerz und Erdenelend dem armen Kinde erspart sind. – Denken Sie nicht an sich, gönnen sie ihm die Ruhe. Sein Leben war ein Leidensweg.“

Aenne stand blaß, mit niedergeschlagenen Augen, sie fand keine Worte für das, was sie bewegte. Heinz Kerkow aber wandte sich kurz um und ging ins Nebenzimmer, dessen Thür hinter ihm zufiel.

Die beiden Zurückbleibenden sahen sich fragend an. „Wir dürfen ihn nicht allein lassen, Fräulein Aenne,“ flüsterte der Arzt. „Gott im Himmel“, fuhr er fort, „der arme kleine Kerl ist erlöst, aber wenn dieser Mann weiter nichts hat auf der Welt! Er lebte ja nur für das Kind – glauben Sie mir, Fräulein, er ist imstande und macht ein Ende – mit sich!“

„Was soll man thun?“ fragte sie dagegen und preßte die Hände zusammen in furchtbarer Angst.

Doktor Lehmann ergriff plötzlich ihre Hand und führte sie in eine der tiefen Fensternischen. Dort öffnete er beide Flügel, so daß die im Mondlicht schimmernde weite Ferne vor ihnen sich aufthat und der würzige Duft der Frühlingsnacht hereinwehte in das Sterbezimmer, zugleich mit den Liedern der Nachtigallen, die in dem Fliedergebüsch des Schloßberges zu singen begannen.

So standen sie schweigend, und eine ganze Weile verstrich, ehe der Mann zu reden vermochte, und Aenne fühlte, wie seine Rechte zitterte, die er mit festem Druck um die ihrige gelegt hatte.

„Fräulein Aenne,“ begann er endlich mit mühsam beherrschter Bewegung, „wenn ich nun wüßte, wer der Mann ist, den Sie nie vergessen können!“

Sie entriß ihm hastig die Hand, ihre Augen blitzten ihn durch die Thränen zornig an. „Herr Doktor!“ sagte sie, tief verletzt.

„Vergeben Sie mir, Aenne; Ihre Mutter selbst hat es mir verraten im grenzenlosen Zorn und in der Bitternis um einen zerschellten Lieblingsplan. ‚Auf das Schloß haben Sie sie gebracht!‘ rief sie mir zu, als ich vorhin unten war, ‚nun, das haben Sie klug gemacht, sie zu dem zu führen um deswillen sie jeden andern verschmähte!‘ Es fehlte nicht viel, sie hätte mich einen Dummkopf gescholten. Sie aber, Aenne, werden zu stolz sein, das zu leugnen. Es gehe mich nichts, an werden Sie vielleicht sagen – schön! Das weiß ich! Aber sehen Sie, Fräulein Aenne, wenn man als Arzt nur anders könnte, als an das Wohl und Wehe seiner Patienten zu denken, selbst wenn einem – dämlichen Kerl, der man ist, das Herz sich umkehrt! Ich meine nämlich, Fräulein Aenne, da Sie ihn nun doch einmal lieben mit jener großen Liebe, deren nur ein Frauenherz fähig ist, so erbarmen Sie sich auch über ihn, dann retten sie den Mann vom Untergang!“

Sie stand, den Rücken ihm zugewendet, aber er sah, wie sie zitterte, wie sie sich mühte, ihrer Erregung Herr zu werden. „Was soll ich thun?“ stieß sie endlich hervor, ohne sich umzuwenden.

„Das fragen Sie mich doch nicht, Aenne? Wann hätte wohl je ein Mann das rechte getroffen in solchen Fällen? Das kann nur einzig das Weib, das liebt. Sie wissen, was ihm fehlt – Freiheit, Arbeit, neuer Lebensmut, Energie – – Na, natürlich wissen Sie es, Aenne! Nehmen Sie sich seiner an, stellen Sie den grundguten, edlen Menschen wieder auf seine eigenen Beine, das kann eine liebende Frau, gewiß kann sie das – wie? das ist Ihre Sache. Und nun guten Morgen, liebe Aenne, ich möchte ein wenig ruhen, ehe ich andere Patienten besuche. Sie wissen von Ihrem Papa her: Wenn der Totenschein ausgestellt ist, ist der Arzt überflüssig.“

Er nickte ihr zu mit seltsam zuckendem Gesicht, suchte Hut und Stock und verließ das Zimmer.

Aenne verharrte regungslos, die Hände um das Fensterkreuz geschlungen, hinter ihr schlief der Kleine den ewigen Schlaf. Es war so still, so furchtbar still, sie meinte, ihr eigenes Herz pochen zu hören. „Gott, erbarme dich,“ betete sie „laß mich den rechten Weg finden, ihm zu helfen!“

Im Nebenzimmer schritt Heinz Kerkow auf und ab. Ihm war zu Mut wie einem Schiffbrüchigen mitten auf dem weiten Ocean, keine rettende Planke, nichts wie Oede rings, entsetzliche lähmende Oede; es lohnt nicht mehr, mit den Wellen zu kämpfen, die Kraft ist erlahmt. Untersinken, Frieden finden dort unten, nur nicht weiter ringen müssen in dieser Hoffnungslosigkeit. – Sterben – –

Aenne hörte dieses ruhelose Wandern wohl eine Stunde lang, dann ward es still nebenan, ein Schrank wurde geöffnet, ein paar Kästen auf- und zugeschoben und nun – sie barg ihre schlanke Gestalt dicht hinter dem Fenstervorhang, nur ihr Kopf beugte sich vor mit angstvollen spähenden Augen – nun öffnete sich die Thür nach dem Sterbezimmer. Heinz trat auf die Schwelle und blickte sich um. Als er das Zimmer verlassen sah, kam er herein, ging festen Schrittes zu der Thür, die auf den Korridor mündete, verschloß diese und kehrte zu dem Bettchen seines toten Knaben zurück. Einige Augenblicke stand er und betrachtete finster die kleine Leiche, dann griff er in die Brusttasche, kniete vor dem Bette nieder und hob den Revolver.

In diesem Augenblick flog es wie ein Schatten an seinem Auge vorüber, eine kleine energische Hand drückte kraftvoll seinen Arm herab und eine klare Frauenstimme sagte: „Seit wann bist du ein Feigling, Heinz Kerkow?“

– – – – – – – – – – – – – – –

Beim ersten Morgensonnenstrahl kehrte Aenne zurück in ihr Heim. Das Haus war noch verschlossen, ebenso die Läden, nur in des Doktors Zimmer stand ein Fenster geöffnet, und sein Gesicht tauchte hinter den Gardinen auf, als Aenne seinen Namen rief und ihn bat, die Hausthüre aufzuschließen.

„Wie ist er denn? Sprachen Sie ihn noch? Wie trägt er es?“ forschte er leise, als sie eintrat.

„Wie ein Mann,“ antwortete Aenne, und sie drückte die Hand des jungen Arztes im Vorbeigehen.

Weiter erfuhren auch weder Tante Emilie noch die Mutter etwas über den Schloßhauptmann von Kerkow, überhaupt niemand. Dagegen erfuhr Aenne etwas anderes, nichts mehr und nichts weniger, als daß sie die rückhaltlose Erlaubnis habe, ihrem Berufe wieder nachzugehen und zwar in Begleitung der Tante Emilie. Und als letztere sich erbot, doch lieber bei der Schwägerin bleiben zu wollen, hörte sie die Antwort: „Danke! Ich habe schon an Lieschen Weidner telegraphiert, sie kommt ganz zu mir – als Tochter. Ihr könnt ja nun völlig leben, wie ihr wollt in Dresden, braucht euch meinetwegen nicht zu sorgen!“

Im übrigen hüllte sich Frau Rat in Schweigen, und selbst der Doktor existierte augenblicklich nicht für sie, denn dieser Mensch war das undankbarste Geschöpf, das je in ihrer Nähe gelebt! Anstatt anzuerkennen, wie sehr sie beflissen gewesen, seine Wünsche zu fördern, hatte er sie angedonnert. ‚Wie, Frau Rat, sie wußten, daß das Herz Ihrer Tochter nicht mehr frei ist, und wollten sie trotzdem überreden, mich zu heiraten? Haben Sie denn eine Ahnung, hochverehrte Frau Rat, daß das – geradezu gesagt – perfide gegen mich, ja, gegen mich, gehandelt ist?‘ So drehte dieser kratzbürstige Mensch auf einmal die Geschichte um, als Lohn für ihre mütterliche Gesinnung. Hätte sie nur einen andern Mieter in Aussicht, dieser Doktor sollte schon dran glauben, leider aber waren die zahlungsfähigen Junggesellen in Breitenfels sehr rar!

Die alte Dame packte mit undurchdringlichem Gesicht Aennes Sachen ein, fügte fast mehr als sie entbehren konnte an Leinenzeug dazu, wie jemand, der nur um Gottes willen reichlich und vollgemessen giebt, damit er dereinst nicht Vorwürfe zu erdulden braucht. Und als am Begräbnistage Heinis Aenne und Tante Emilie vom Kirchhofe zurückkehrten, war nicht nur alles aufs gewissenhafteste geordnet und eingepackt, es lag auch ein Couvert neben Aennes Tasse, das einen Tausendmarkschein enthielt. Dein mütterliches ’Erbe’ stand darauf geschrieben, mit großen Buchstaben.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_311.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)