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schweres Herz mit über den Ocean. Vergeblich blieb es, daß er sich energisch vorhielt, es sei geradezu unsinnig, sich einzubilden, ein vierzehnjähriges Kind zu lieben, noch dazu die eigene Nichte, die er als Wickelpuppe im Arm gehalten hatte. Es war eben keine „Einbildung“, wie er sich’s so gern vorgeredet hätte, es war Wirklichkeit! Er nahm das Bildnis des „Kindes“, der „Nichte“ mit hinüber in seinem leidenschaftlichen, verschlossenen Herzen, und er konnte diesem Herzen nicht wehren, einen heimlichen Kultus damit zu treiben. Seine praktischen Zwecke verfolgte Leo Gräfenberg gründlich in England und Amerika, studierte Land und Leute, las einschlägige Schriften, besuchte Musterwirtschaften und besah Maschinen, ebenso gründlich aber nahm ganz gegen seinen Willen sein eigenwilliges Herz stets den nämlichen Kurs und flog der Heimat zu und einem blonden, zartgliederigen Mädchen mit schönen, tiefen Augen, die ihn, er mochte beginnen, was er wollte, beständig anblickten, als wollten sie sagen. Warum fliehst du vor uns und spielst Verstecken mit deinem eigenen Herzen? Wir sehen in dich hinein, wir wissen genau, wie es um dich steht, und lägen noch so weite Länder und Meere zwischen dir und uns!

Keinen Augenblick kam ihm im Ernst der Gedanke, nach einiger Zeit zurückzukehren und um das Mädchen zu werben. Sie sah in ihm nur den Onkel, mußte ihn sehen, und der Gedanke, ihn sich als ihren künftigen Gatten vorzustellen, konnte nie und nimmer Eingang bei ihr finden. Sie war ja, hatte sie auch die klügsten, schönsten Augen von der Welt, ein Kind, ein reines Kind, das hatte ihm ihr Benehmen bewiesen; zutraulich und liebreizend, solange er sich eingehend mit ihr beschäftigte, verschlossen und scheu, sobald er nur im mindesten nachließ, sie zu suchen. Es war noch kein eigenes Wollen und Fühlen in ihr, die Seele war noch nicht wach!

So wollte er fern bleiben und warten, bis sie verlobt oder gar verheiratet war, das konnte vielleicht solange nicht mehr dauern und dann wollte er heimkommen und „vernünftig sein“ und für Leonie ein Erbonkel werden, es mußte ja auch solche Leute geben auf der Welt.

Mithin ließ er die verwunderten Bemerkungen und Anspielungen in den Briefen von „zu Hause“ unbeachtet, ließ es geduldig über sich ergehen, wenn man ihn fragte, ob ihn eine Tochter Albions oder eine „freie Amerikanerin“ dort fessele und wie man gespannt sei auf das überseeische Ehegespons, das er sich mitbringen würde. Er litt ruhig alle Schelte, daß er nicht einmal zu Leonies Konfirmation herüberkommen wolle, zu Leonies, die doch früher sein erklärter Liebling gewesen sei. Früher – guter Gott! Er schickte eine sehr schöne, schwere Goldkette samt Perlenmedaillon („zu den Bildern der Eltern“, wie er schrieb) hinüber und blieb, wo er war.

Es traf ein Dankesbrief von Leonie ein, sehr gut stilisiert, sehr wohlgesetzt, aber herzlich nichtssagend. Sie fand die Schmuckgegenstände, die er ihr geschickt hatte, wunderschön, sie erzählte ihm von ihren sonstigen zahlreichen Geschenken, schilderte ihm den Konfirmationstag und zählte all die Wissenschaften und Künste her, in denen sie jetzt noch, nach Absolvierung der Schule, „privatim“ unterrichtet werden sollte. Der ganze Brief war wie ein wohlgelungener Aufsatz für die Selekta, es war von diesem Standpunkt aus schlechterdings nichts gegen ihn zu sagen.

Selbstverständlich lautete die Ueberschrift „Lieber Onkel!“ und die Unterschrift „Deine Nichte“. Wie sollte das Mädchen anders schreiben? Es waren die einzigen beiden Bezeichnungen, die ihm und ihr zukamen. Leo Gräfenberg sagte sich das so oft und so eindringlich vor, daß er es am Ende hätte begreifen müssen, aber immer von neuem, wenn er den Brief vornahm – und er nahm ihn leider recht oft vor – blieben seine Augen mit brennendem Vorwurf auf den Worten „Lieber Onkel!“ und „Deine Nichte“ haften, und er wiederholte voller Bitterkeit in seinem Herzen. „Natürlich! – Onkel und immer Onkel! Natürlich! Nichte – und nichts als Nichte!“

Er hatte sich’s in den Kopf gesetzt, Leonie müßte sich jetzt, da sie „endlich“ eingesegnet sei (sie zählte sechzehneinhalb Jahre!), durchaus schleunigst verloben. Er wartete förmlich darauf. Warum geschah es denn jetzt nicht, da es doch ohne allen Zweifel sehr bald geschehen mußte? Was dachte sich das Schicksal dabei, ihn so raffiniert zu martern, anstatt die Folter abzukürzen. Er war nun reichlich lange genug „drüben“ gewesen und sehnte sich nach Deutschland, nach der heimischen Scholle, auch nach den Seinigen. Zuerst aber mußte Leonie verlobt oder verheiratet sein, dann wollte er „den Strich ziehen“ und hinübergehen.

Aber mehr als ein Jahr verging, und das mit solcher Bestimmtheit erwartete Ereignis blieb aus. Statt dessen stellten sich bei Leo beunruhigende Nachrichten von dessen Vater ein. Er war mittlerweile ein alter Herr geworden und litt an einem Herzübel, das bedenklich rasche Fortschritte machte und seinem Leben keine allzulange Dauer mehr versprach. Der Hausarzt schrieb, die Stiefmutter schrieb, beide schilderten den Zustand des Kranken und wie er den einzigen Sohn herbeisehne, um ihm noch allerlei Verhaltungsmaßregeln, die ihm auf der Seele brannten, zu geben, um ihm sein Erbe, das väterliche Gut, recht warm ans Herz zu legen.

Da half kein Zögern, kein Ueberlegen. Hier war eine ernste Pflicht, die da rief, und Leo war nie der Mensch gewesen, sich einer solchen zu entziehen. Er tröstete sich mit dem Gedanken. „Ich brauche ja gar nicht nach der Residenz zu fahren, ich darf sie gar nicht wiedersehen, wenn ich nicht will!“ und so schnürte er mit einiger Umständlichkeit sein Bündel und dampfte nach Europa hinüber.

Seinen Vater fand er weit kränker, als er sich’s vorgestellt hatte. Es half nichts, sich die Wahrheit zu verhehlen – die Tage des Patienten waren gezählt, und rührend war die Freude des alten Herrn, den weitgereisten Sohn noch um sich zu haben, dessen Ansichten gegen seine eigenen einzutauschen, die überseeischen Eindrücke und Erfahrungen zu prüfen, hier zu billigen, dort zu widerraten und alles immer auf das Stammgut zu beziehen, das zu heben und zu verbessern Zweck seines Lebens gewesen war. Der Sohn war voll Pietät und Verständnis, er weilte fast immer am Bett oder Lehnsessel des kranken Mannes, reizte ihn nie durch Widerspruch, besprach eingehend Dinge mit ihm, die ihm selbst, dem jüngeren Gräfenberg, oft entweder selbstverständlich waren oder nebensächlich erschienen. Mit einem Wort, er liebte und pflegte den Vater voller Hingebung und stand in aufrichtigster Trauer an seinem Sarge, als sich die müden Augen nach hartem Kampf endlich geschlossen hatten. Es war eine stattliche Beerdigung, an der die ganze Umgegend Anteil nahm, und auch die Verwandtschaft kam von weither zugereist, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Frau Rechtsanwalt Trautwein, die sich mit Recht dessen rühmte, stets vortrefflich mit ihrem Stiefvater gestanden zu haben, ließ es sich nicht nehmen, gleichfalls zur feierlichen Beisetzung zu erscheinen, und sie brachte ihre Tochter Leonie mit.

Es war weder Ort noch Zeit für Liebesgedanken günstig, aber mitten in seinem ehrlichen Leid um den Vater schlug Leo Gräfenbergs Herz zum Zerspringen, als er das blonde Mädchen in der tiefen Trauerkleidung vor sich sah – sie war so unendlich viel reizender, als er sie in der Erinnerung bewahrt, als selbst seine geschäftige Phantasie sie ihm vorgezaubert hatte.

Er erfuhr beiläufig durch diesen und jenen, daß sie für eine Schönheit gelte und trotz ihrer achtzehn Jahre schon einige namhafte Freier heimgeschickt hätte, daß sie aber im Ruf stände, sehr wählerisch und „apart“ zu sein und nicht sonderlich viel Gemüt zu besitzen. Er mußte es mit ansehen und erleben, daß einer der umwohnenden jungen Gutsbesitzer, ein außerordentlich gut sanierter und recht hübscher Mann, die Sehnsucht vieler Mütter und Töchter, sich Hals über Kopf in die schöne Leonie verliebte und alles dransetzte, sie sich zu gewinnen; er mußte es mit ansehen und anhören, daß seine Stiefschwester Käthe, des Mädchens Mutter, demselben in seiner, Leos, Gegenwart zuredete, „nur nicht wieder die Prinzessin zu spielen“, sondern zu bedenken, was ihr hier geboten wurde, und er mußte ein Lächeln und Erröten auf diesem Gesicht sehen, das ihn um den Verstand zu bringen drohte. Es gab in der That nach des Vaters Tod viel zu thun und zu ordnen. Aber solange Schwester Käthe mit ihrer Tochter unter seinem Dach weilte, übertrieb der Hausherr diese Seine Obliegenheiten noch um ein Bedeutendes, fuhr und ritt stundenlang umher, ließ sich abends, unter dem Vorwand, zu müde zu sein, bei den Damen entschuldigen, war in aller Morgenfrühe wieder auf und davon, kam niemals heim, ohne davor zu zittern, Leonie als Braut begrüßen zu müssen, und legte sich nie nachts nieder, ohne ein

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