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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

ruhige Zuhören und Abwarten beibrachte, Käthe, die ihm, halb spielend, den ersten Unterricht erteilte und das erste Zeugnis ausschrieb. Oft genug war er unlenksam und widerspenstig, aber die neue Schwester besaß ein Zaubermittel, das niemals fehlschlug: sie kümmerte sich dann nicht um ihn, sondern ging ruhig ihres Weges, als existierte er nicht für sie. Und das konnte Leo nicht ertragen, sie sollte da sein, durchaus und immer da sein! Die neue Mutter, eine sanfte, passive Natur, gewann wenig Einfluß auf den Knaben, ihr genügte es, wenn er nicht trotzig und unartig war, sobald sie ihn beschäftigt wußte, und die Ueberzeugung, er habe weiter keine Abneigung mehr gegen sie, sondern begegne ihr ohne jeden Zwang freundlich, befriedigte sie vollkommen. Käthe forderte viel mehr von ihm, und sie erreichte auch viel mehr. Beide hatten jetzt Unterricht, selbstverständlich gesonderten, da sie mehr als sechs Jahre älter war als er. Wie sie sich auszeichnete und beinahe immer vorzügliche Censuren davontrug, so erwartete sie es von ihm … und erwartete es nicht vergebens. In Arbeit und Spiel, in Wald und Feld, in Haus und Schulzimmer unzertrennliche Gefährten so wuchsen die zwei zusammengebrachten Geschwister heran, für zahlreiche Eltern unverträglicher Kinder in der Nachbarschaft ein willkommenes Beispiel. „Seht doch Leo und Käthe an, wie sie sich lieben, und das sind nicht einmal rechte Geschwister!“

Der neuen Ehe blieben Kinder versagt, und vielleicht trug dieser Umstand dazu bei, das Band, welches Bruder und Schwester umschloß, noch fester zu knüpfen, da sie mit niemand zu teilen brauchten und ganz aufeinander angewiesen waren. Groß war der beiderseitige Kummer, als es nach einigen Jahren glücklichsten Beisammenseins zur ersten Trennung kam, das fünfzehnjährige junge Mädchen sollte den landesüblichen „letzten Schliff“ in der Residenz bekommen, der neunjährige Junge mußte auf’s Gymnasium, zunächst auf dasjenige einer nahen Kleinstadt, wo die Eltern ihn besser überwachen und des öfteren sehen konnten.

Leidenschaftlich schmerzliche Abschiedsscenen wechselten fortan mit stürmischem Wiedersehensjubel. Käthe gefiel sich wohl in der Residenz und ging mit Eifer ihren mannigfachen „Studien“ nach, aber was war das alles gegen ihr Leben mit dem „Zigeuner“ – sie nannte ihn unweigerlich so! – gegen ihre gemeinsamen Streifzüge durch Wälder und Wiesen, ihre endlosen Plaudereien, ihre Kindheitserinnerungen und Zukunftspläne. Und was waren Leos Schülererlebnisse, sein Pensionsleben, seine Lehrer und Kameraden gegen diese „seine Käthe“, der man alles sagen konnte, die alles verstand – Freundin, Schwester, Lehrerin, „famoser Kerl“, alles in einer Person. Sie wollten nie heiraten, die beiden, das stand für sie ganz fest! Nach ihrem Lebensplan wurde Leo Landwirt, übernahm später Papas Gut und Käthe zog zu ihm und führte sein Hauswesen … Punktum! –

Doch der Mensch denkt, und Gott Amor lenkt! Leo war knapp vierzehnjährig und eben zur Obertertia aufgerückt, da nahmen die Briefe der zwanzigjährigen Käthe eine sonderbare Färbung an, die Schreiberin verwickelte sich in schwierige und langatmige Perioden – – wie man nie wissen könne, was da komme – und wie man sich hüten müsse, in wichtigen Dingen etwas vorauszubestimmen – und wie sie jetzt leider kein Kind mehr sei … das heißt, sie meinte eigentlich nicht „leider“, denn sie wolle um keinen Preis wachsen – und von dem Zug des Herzens, den man durchaus als des Schicksals Stimme ansehen müsse, selbst wenn man sich genötigt sehe, darüber wortbrüchig zu werden – ihrer schwesterlichen Liebe sei ihr goldener, lieber, alter „Zigeuner“ ja für allezeit sicher … Der arme Leo griff sich an den Kopf und citierte. „Herr, dunkel ist der Rede Sinn“. Aber er blieb ihm nicht lange mehr dunkel!

Eine schöngestochene Anzeige klärte ihn alsbald auf, und diese Anzeige besagte in wohlgesetzten Worten, daß Fräulein Katharina Merwin sich mit Herrn Rechtsanwalt Trautwein in der Residenz verlobt habe. Der arme kleine „Zigeuner“ war wie vom Donner gerührt, er weinte in der Einsamkeit seines Zimmers die bittersten Thränen, er schwor sich zu, diesen Rechtsanwalt Trautwein zu hassen wie seinen ärgsten Feind, er sagte sich, diese verlobte Katharina Merwin sei gar nicht „seine“ Käthe mehr, sei eine fremde Dame, mit der er nichts zu teilen habe und sein Gratulationsbrief, der achte, der endlich fertig wurde, denn sieben hatte er als unbrauchbar zerrissen, war ein nichtssagendes, steifes, wohlstilisiertes Schriftstück, an dem keine Schwester der Welt ihre Freude haben konnte. Es half alles nichts! Käthe schrieb umgehend, Leos Brief sei einfach „ein Scheusal“ gewesen, im übrigen aber sei sie so grenzenlos glücklich durch ihren Gustav und ihr Gustav durch sie, daß niemand und nichts in der Welt diese Seligkeit stören könne, und ihr goldiger „Zigeuner“ solle nur zu den Ferien kommen und sehen, was Gustav für ein seltener Mensch wäre – ein Mensch, wie er überhaupt nur einmal im Leben vorkäme! Und Gustav ließe seinem Schwager Zigeuner sagen, er liebe ihn jetzt schon brüderlich und freue sich von Herzen, im Bunde der Dritte zu sein … Ach, eine goldechte Brautepistel, für die nur der arme Leo nicht das mindeste Verständnis besaß und kein Atom von gutem Willen, um zu einigem Verständnis zu gelangen!

Es war nicht zu umgehen, den geliebten Gustav kennenzulernen, und trotzdem Rechtsanwalt Trautwein in der That ein liebenswürdiger Mann war und alles that, die Sympathie seines jugendlichen Schwagers zu gewinnen – es wollte nicht recht werden. Der Zigeuner ballte zwar nicht mehr die Fäuste, noch setzte er die Zähne aufeinander und ließ sich einsperren, aber er blieb kühl und förmlich dem neuen Anverwandten gegenüber, und zu einem Bündnis zu Dreien kam es nicht. Leo ließ in seinem Herzen dem Rechtsanwalt jede Gerechtigkeit zu teil werden … er gab zu, der Mann war gut aussehend, intelligent, angenehm – alles recht! Nur hätte er ihm die Käthe nicht wegnehmen sollen, das konnte, nein, das konnte ihm der Zigeuner nimmermehr vergeben! Die Schwester hatte seine anfängliche Reserve bald überwunden, ihr gegenüber hielten Förmlichkeit und Kälte nicht stand, aber je mehr Leo sie, die in ihrem Glück doppelt reizend war, liebte und bewunderte, um so mehr zürnte er dem „fremden“ Menschen, der sie „ihm fortgenommen“ hatte.

Auf der fröhlichen Hochzeit, die mit allem Glanz, den das Gräfenbergsche Haus irgend aufzubieten wußte, gefeiert wurde, war der „kleine Zigeuner“ wie die ganze Nachbarschaft ihn nannte, ein stiller Gast – ja, wirklich, man konnte beinahe „Gast“ sagen, obwohl er in seinem Vaterhaus war. Da der Wohnsitz des jungvermählten Paares die Residenz und diese eine Tagereise von Leos Provinzstadt entfernt war, so gab es für den Knaben so bald kein Wiedersehen mit Schwester Käthe, nicht eher, als bis nach Jahresfrist dort ein Töchterchen geboren und der Bruder zur Taufe geladen wurde.

Wieder erschien ihm „seine Käthe“ in einem ganz neuen Licht, wie sie ihm nun zum erstenmal entgegentrat in ihrem jetzigen Heim, mit dem schlafenden Kindchen im Arm, das Leos Nichte sein sollte.

„Zum Paten kann ich dich natürlich nicht nehmen, mein Zigeuner,“ sagte Frau Käthe und fuhr ihm mit liebevoll streichelnder Hand über das dunkle Gesicht, „weil du nämlich noch nicht konfirmiert bist. Aber ich hab’ etwas anderes für dich gethan, was dir hoffentlich beweisen wird, wie du immer in meinen Gedanken bist und welchen Platz du, nach wie vor, in meinem Herzen einnimmst, trotzdem du dich die ganze letzte Zeit hindurch, gelinde gesagt komisch benommen hast.“

Und als der feierliche Taufakt vollzogen wurde, da erwies es sich, daß die „Kronprinzessin“ den Rufnamen Leonie erhielt dem „Onkel Zigeuner“ zu Ehren, trotzdem Rechtsanwalt Trautwein sowohl als seine Gemahlin eine entschiedene Antipathie gegen alle ungewöhnlichen Namen hegten. – Leo stand mit einem scheuen, gerührten Lächeln, in unbeholfener Haltung da und sah auf das winzige Ding von einem Menschenkinde, das man ihm in die Arme gelegt hatte, nieder.

„Denk’ nicht, daß du nichts weiter mit der Sache zu thun hast, als ‚Schön Dank’ zu sagen“, bemerkte Frau Käthe schelmisch. „Da du in einem halben Jahr ganz hierher übersiedelst, um der Wohlthat eines Residenzgymnasiums teilhaftig zu werden, und dann ein Mitglied unserer Häuslichkeit sein sollst, so hast du dich um diese deine angestammte Nichte Leonie Trautwein zu bekümmern hast, sie zu lieben, an ihrem leiblichen und geistigen Gedeihen den lebhaftesten Anteil zu nehmen und deinerseits alles dazu beizutragen, daß sie ein Glück und Stolz ihrer Eltern wird, befähigt, Götter und Menschen zu erfreuen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_302.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)