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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Ehrenwort, daß er die Wahrheit sage, flogen wie Funken vor den Ohren der Frau Rat umher. Nie, nie habe er geahnt, daß ein Mädchen ihn so bezaubern könne, gestand er.

Frau Rat konnte, ohne ihn abzukühlen, die Zurückhaltende spielen; sie sagte, Aenne sei ganz arm.

„Zu Tode will ich mich schinden für sie!“ schwur er.

Und sie habe auch so eigene Ideen, der Herr Doktor wisse ja wohl, daß sie nur der Mutter zuliebe ihre Künstlerlaufbahn aufgegeben habe, die ihr Großes verheißen.

Jawohl, das wisse er, und es sei gar nicht seine Absicht, das schöne Geschöpf zu seiner Haushälterin zu machen, und so ganz arm sei er doch schließlich auch nicht, sein Vater habe ein Gut in der besten Lage der Magdeburger Börde, nichts als Weizenboden – prima! Aenne könne allein ihren Neigungen leben, er werde sich nur nach ihr richten.

„Lieber Herr Doktor, Sie wissen, wie ich Sie schätze,“ sagte Frau Rat gerührt, „an mir soll’s nicht fehlen – versuchen Sie Ihr Glück bei Aenne!“

Er stand still und putzte den Kneifer wieder, und die runden, kurzsichtigen Augen sahen wie hilfesuchend umher. „Ja, verehrte Frau Rat, das ist eben eine verfluchte – pardon – eine schwierige Geschichte“, stotterte er – „Fräulein Aenne versteht mich – glaube ich – absichtlich nicht. Ich – Sie können denken, ein Korb ist kein angenehmes Ereignis im Leben eines Mannes, und ich möchte, bevor ich eine Erklärung riskiere, Gewißheit haben, erhört zu werden. Ich hatte zu hoffen gewagt, daß Sie, verehrte Frau Rat, als Mutter doch einigen Einfluß – Sie kennen den Wunsch, das Streben meines Lebens, in Ihre Hände lege ich mein Geschick – sprechen Sie mit Fräulein Aenne, erbarmen Sie sich über einen Menschen, dem, hol’s der Kuckuck – die Angst vor einem Abfall den Mut nimmt, selbst eine Entscheidung herbeizuführen aber bald, thun Sie es bald!“

„Haben Sie vorhin denn nicht von Ihren Wünschen zu Aenne gesprochen, Herr Doktor?“

„Massenhaft!“ antwortete er. „Aber, ich bemerkte schon, sie will nicht verstehen.“

„Ich werde mit ihr sprechen,“ erklärte Frau Rat.

Als sie in das Schlafzimmer trat, das sie mit Aenne teilte – Frau Rat behauptete, vor Angst sterben zu müssen, wenn sie allein schlafe – erhob sich Tante Emilie von dem Stuhl, auf dem sie an Aennes Bette gesessen, und legte den Finger an die Lippen. „Eben ist sie eingeschlafen, wecke sie nicht auf!“ Und Frau Rat beugte sich über ihr Kind und erkannte beim Schein des Mondes, daß Aenne geweint hatte.

Sie hat ihn doch wohl verstanden, dachte sie und ging so leise schlafen, daß Aenne, wenn sie wirklich geschlafen hätte, thatsächlich nicht aufgewacht sein würde. Und dann schlief die alte Dame ein und träumte von Brautschleiern, Myrten und weißem Atlas – ach, wenn’s doch May noch miterleben könnte! Einmal in der Nacht aber erwachte sie und sah Aenne aufrecht am Bette sitzen, die Arme um die Kniee geschlungen, starrte das Mädchen in das Dämmern des kleinen Gemachs, unbeweglich, als sei sie aus Stein gehauen. Eine Weile beobachtete die Mutter ihr Kind, dann meinte sie, die Stunde sei vielleicht gekommen, wo eine Aussprache möglich sei. Aber bei der leisesten Bewegung, die sie machte, legte Aenne sich zurück.

„Aenne!“ sagte halblaut Frau Rat, aber sie erhielt keine Antwort. Sie kann ihre dumme Singerei nicht aus dem Kopfe bringen, dachte die Mutter, man darf nicht zu früh reden.

Frau Rat schlief endlich auch wieder ein, und als sie früh erwachte, schlug es fünf Uhr. Ihr erster Blick ging hinüber zu Aennes Lagerstatt – sie war leer. „Es ist die Möglichkeit,“ seufzte die alte Dame, „sie wird alle Tage wunderlicher, was ist das für ein närrisches Mädchen! Wenn ich’s nicht aus der Aehnlichkeit mit der Mayschen Sippe wüßte, ich könnte meinen, Zigeuner hätten mir das Kind vertauscht.“

Die Nacht würde Aenne nie vergessen, solange sie lebte, das wußte sie genau. Viel Schweres hatte sie durchgemacht in ihrem jungen Leben, sie hatte es ertragen, daß der Mann, den sie liebte und von dem sie sich geliebt glaubte, urplötzlich sich von ihr abwandte, einer andern zu, die er noch tags zuvor verspottet hatte. Sie war mit ihrem tief verletzten Herzen, ihrem gekränkten Stolz, ihrem Trotz in eines andern Arme geflüchtet und hatte mit Entsetzen alle die Konsequenzen über sich ergehen lassen, die dieser verzweifelte Schritt mit sich brachte. Sie hatte es ertragen müssen, einen guten Menschen, der sie liebte, gekränkt und unglücklich zu sehen – ihretwegen, weil sie ihm ihr Wort nicht halten konnte, sie hatte die Kämpfe mit ihren Eltern bestanden um ihrer Selbständigkeit willen, um ihre Kunst, sie hatte den Vater verloren und ihren Beruf, der sie hinweg hob über die Misere des Lebens, der Mutter zuliebe aufgegeben, sie hatte sich gegrämt um den Mann, den sie unglücklich wußte, aber die Kunde von ihm, die ihr gestern geworden, das war das allerschwerste!

Mit vollen Flammen schlug ihre alte heiße Liebe für ihn, den sie nie vergessen konnte, wieder empor, und nichts weiter als das eine beherrschte sie: er darf nicht untergehen, er darf nicht, Heinz Kerkow, der Gespiele ihrer Kinderzeit, ihre erste, einzige Liebe, der frische, lustige Mensch – es kann nicht sein, es darf nicht sein! Sie rief ihren alten Trotz zu Hilfe gegen das, was sie fortreißen wollte, was sie hintrieb zu ihm. – Was geht’s dich an? Er hat dich mit Füßen getreten, dich und die Liebe! Es half nichts. – Er darf nicht so enden, er darf nicht, man muß ihn retten – aber wie? Und immer deutlicher, immer bewußter ward es: du kannst es, du mußt es! Geh’ zu ihm, rede ihn an mit dem alten treuen, kameradschaftlichen Ton der Vergangenheit!

Und wieder bäumte sich ihr trotziges Herz auf. Nein! Nein! Er könnte ja denken, ich wollte aufs neue um seine Liebe betteln, denn er ist jetzt frei.- Nein, lieber tot! – Aber es ließ ihr keine Ruhe. Geh’ zu ihm, er braucht eines Freundes Hand! Wenn ein Wildfremder am Rande eines Abgrundes ginge, ohne die Gefahr zu kennen, du würdest ihn zurückreißen, Aenne, und den Mann, dem doch deine ganze Seele gehört, den willst du verkommen lassen?

Aber, er kann dich ja suchen! sagte das trotzige Herz.

Nein, nein! Du weißt ja, er ist krank, er ist wie eine Pflanze, der ein Wurm an der Wurzel nagt, nicht mehr fähig, einen frischen Trieb zu treiben, einen rettenden Gedanken zu fassen. Er kann nicht mehr handeln – handle du!

Mein Gott, aber wie denn? Schreiben? Der Doktor hatte ihr erzählt, Heinz öffne die Briefe gar nicht mehr, die er bekomme, ausgenommen etwa die dienstlichen Schreiben. – Nein, sie muß ihn sehen, ihm in den Weg treten, muß zu ihm sprechen!

Was denn aber? Das wußte sie noch nicht. Der Zufall würde ihr helfen, irgend ein Wort würde sie finden, das ihm zu Herzen geht, gar nicht ’mal viele brauchten es zu sein!

Tatsächlich schlief sie nicht einen Augenblick in dieser Nacht, und als der Tag anbrach, stahl sie sich aus dem Schlafzimmer und lief in den Garten. Er lag schon im vollsten Sonnenschein und der Tau funkelte auf allen Blättern und Gräsern. Sie vergaß ganz, daß sie im Morgenanzug war, einem alten, schwarz und weiß gemusterten Kattunkleidchen, dessen Rock ein klein wenig zu kurz geworden, und dessen Bluse mit dem Matrosenkragen ihrer prächtigen Gestalt ein wenig kindlich ließ. Sie hatte nur flüchtig die Haare geordnet, sie hingen ihr in zwei schweren Flechten herunter, wie Aenne sie zu jener Zeit noch gern trug, als sie mit Heinz und Tante Emilie ihre Waldspaziergänge machte. Unter dem Kate-Greenaway-Hut, der auch ein altes Inventarstück war, guckten ihre Augen ins Leere hinaus, auf ihrem Gesicht wechselten Röte und Blässe, und ihre Füße wandelten längst außerhalb des Gartens den Waldweg hinter der Domäne entlang, der zum Luisenschlößchen führte. Dort stand die Frau Försterin schon vor der Thür und sah ihr ganz verwundert entgegen.

„Hätt’ Sie beinahe gar nicht erkannt, Fräulein May!“ rief sie, „das kleidet Sie ja wie ein Backfischchen! Schönen guten Morgen! Wollen Sie so zeitig schon singen?“

Aenne stutzte. „Ja!“ sagte sie dann nach kurzem Besinnen, „wenn’s nicht stört, Frau Försterin?“

„I Gott bewahre! Mein Mann ist längst im Walde, und meine alte. Schwiegermutter – sie ist zwar krank, aber sie hört’s nicht, die ist stocktaub.

Und Aenne eilte zu ihrem Klavier, und wenn’s auch nur Uebungen waren, die Töne beruhigten sie wie ein betäubendes, schmerzlinderndes Mittel. Sie hatte schon eine ganze Weile gespielt, da klopfte es und die junge Förstersfrau trat ein.

„Jetzt kommt der Herr Schloßhauptmann mit seinem Jungen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_295.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)