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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

küßten im Schutz der mondbeglänzten Mauer! Das silberhelle Lachen des Mädchens klang durch das Zirpen der Grillen im Gras zu Svensen herauf und machte die alten Wunden wieder bluten. Unruhe packte ihn. Was schaute er auf die Glücklichen hinab? Für ihn war’s Zeit, zur Ruh’ zu gehen.

Da stockte jäh sein Fuß. Sein Herz, das schon still zu werden begann im herüberwehenden Friede des Grabes, schlug plötzlich wie ein Hammer. Er sah etwas außer dem in sich versunkenen Paar, etwas, das jene nicht sehen konnten, der schwarze Schatten auf der Rückseite der Turmmauer war lebendig! Er bewegte sich. Formlos rührte er sich, aber etwas funkelte, glitzerte in ihm.

Dem einsamen Mann lief es eiskalt über den Rücken. Hatte der Nachttau ihn erkältet, der seit Stunden auf ihn niedersank? – Aufgeregt begann er vorwärts zu schreiten, vorwärts! nicht zum Meer, landeinwärts mit weiten Schritten, geräuschlos, behutsam, auf daß die Glücklichen ihn nicht gewahrten und nicht das Unbekannte, das auf der andern Seite lauerte, behutsam und doch in Hast. Vorwärts, vorwärts im Wettlauf mit der lautlos rinnenden Zeit, getrieben von einer entsetzlichen Angst, der Geißel seines Lebens, der Sorge, nicht zu spät zu kommen – o, nur dies eine Mal nicht! –

Atemlos erreichte er das Gemäuer. Er mußte sich daran halten, sich erholen vom raschen Lauf. An den Pfeiler gedrückt, horchte er, spähte er vor sich, hinter sich mit angehaltenem Atem. Nur das Gekose der Liebenden, fern von Holtenau das Schlagen einer Uhr – der weiße Strand, das glitzernde Meer.

Aber jetzt rieselten Sandkörner, jetzt kroch’s heran, wand sich schlangengleich durch das Dunkel. –

„Halt du! –“

Ein Zischen wie von einer Natter, kaum hörbar, aber eine Wut ohne Grenzen sprach daraus … Ein jähes Aufbäumen, ein geschmeidiges Gleiten … „Weg! – Weg!“

Umsonst. Svensens Faust hielt eisern, was sie packte. Sie zwang den Schatten, stand zu halten, sie zerrte, sie schleifte ihn hinaus in das grelle Licht, das die Schatten hassen. Und in diesem Licht sah Svensen ein braunes Antlitz, zwei schwarze Augen, glühend in Haß wie eines Teufels Augen, das Amulett sah er blitzen auf der nackten Brust des Italieners Peretti! Und in der freien rechten Hand des Mannes blitzte noch etwas anderes in stechendem Glanz wie ein besonders heller Mondscheinreflex – – Er hascht danach – da fährt es ihm schon zischend in die Brust, ein Blitz, kein milder Mondenstrahl.

Seine Kniee biegen sich jäh in bleierner Schwere. Seine Finger lockern widerwillig ihren Griff. – „Wahr’ dich, Lorensen!“ – Hat er die Worte noch hervorgebracht? – War’s nur ein Schrei?

Durch den Schleier, der vor seine Augen niedersinkt, sieht er den Schatten durch das Mondlicht jagen in weiten Sätzen dem Strand zu, den Weg nach Friedrichsort, fort! – fort!

Die Mordthat sitzt ihm auf den Fersen und hetzt den Verlorenen über das Land.

Und dann sieht er in ein geliebtes Gesicht, das sich über ihn neigt – in Staunen, in banger Sorge, goldenes Haar flimmert vor seinen Augen. Vor seinen Ohren aber braust’s wie sturmgepeitschte Brandung. Schwach nur und wie aus weiter Ferne vernimmt der zu Boden Gesunkene Lorensens Stimme durch das Tosen – der fragt, der forscht. Einen einzigen Namen erhascht er. „Peretti?“ und er nickt. Er kann nicht sprechen, er ist zu müd’. Die Ruhe kommt, die tiefe Ruh’.

Da weckt ihn noch einmal der gelle Aufschrei des Mädchens, das das Blut entdeckt hat, welches in unaufhaltsamem Strom unter seinem linken Arm hervorquillt.

Lorensen hat sich über ihn gebeugt, versucht ihn aufzurichten, zerrt und reißt an ihm in seiner Angst.

„Svensen! Gott bewahr’ mich! – Hat er dir gestochen? Lauf’ fix nach ’n Doktor, Doris! – Komm, Kamerad, das kann doch nich slimm sein.“

„Nee,“ sagt Svensen, dem auf einmal wieder ganz klar und licht im Kopf wird, und hält Doris am Kleiderrock fest, „slimm is das gor nich. Abers gieb’ dich man kein’ Müh’. Auf Messers verstehn sich die Italieners. Das sitzt.“

Und er faßt die Hände, die sich ausstrecken, um ihm zu helfen, die des Mannes, die des Mädchens, und drückt beide fest ineinander.

„Gott segne dich, mien Deern! Das is gut so – gans gut, wie es is –“

Lorensen preßt die Fäuste vor seine naß gewordenen Augen. Er hat einen Blick auf die Wunde geworfen, er versucht keine Hilfe mehr. Schluchzen schüttelt das Mädchen.

Svensen aber richtet den Oberkörper auf. Seine Augen schauen hell und groß in das Licht des Mondes.

„Einmal in mein’ Leben bin ich doch zur rechten Zeit gekommen,“ sagt er laut und feierlich. „Nu is’ gut. Gott im Himmel, ich dank’ dir!“

Und wieder braust die sturmgepeitschte Brandung in seinem Ohr. Der Mond wird zur Sonne, zum wild durch den Himmel rollenden Feuerrad. Jäh erlischt sein Glanz. Auch die Brandung schweigt. Dunkel, Stille. Svensens Hand streckt sich zitternd aus – nach welchem Ziel? – Sie sinkt herab.

Stumm liegt das Meer, stumm liegt das Land. Erschüttert beugen zwei Menschen sich über einen Toten, einen Mühseligen, der die glücklichen Tage, die ihnen noch winken, erkauft hat mit seinem Leben.

Er aber liegt stolz befriedigt auf dem blutgetränkten Sand, ein Sieger, wenngleich ohne Denkmal und Lorbeerkranz. Denn sterbend hat er sein Schicksal überwunden, die Schwäche, an der sein Leben krankte. Auf den lächelnden Lippen schwebt fort und fort das Wort des Triumphs: „Einmal zur rechten Zeit!“



Blätter und Blüten.

Frühlingskuren. In früheren Jahrzehnten galt der Frühling als eine Zeit, die zur Vornahme verschiedener Kuren besonders günstig erschien. Man sammelte allerlei frische Kräuter, preßte ihren Saft aus und trank ihn nach besonderer Vorschrift. Solche Kräuterkuren sollten blutreinigend wirken, tatsächlich wirkten sie abführend. Zur Frühlingszeit wurde auch der Aderlaß besonders gepflegt und im Mai drängten sich die Kunden zu dem Bade, der Gesunde und Kranke von der Ueberfülle des Blutes zu befreien pflegte.

Heute sind diese Frühlingskuren aus der Mode gekommen nur hier und dort werden noch Kräutersäfte bereitet und der Aderlaß ist geradezu verpönt. Man behauptet, daß diese Wandlung in der Anschauung des Volkes ’mit einer Veränderung in der Konsumtion des Kulturmenschen zusammenhänge. Die früheren Geschlechter, die uns vorangegangen, waren blutreich und bedurften des Aderlasses, die modernen Menschen haben nichts mehr von jener Säftefülle, im Gegenteil, sie sind nervös und blutarm geworden und schauen sich nach andern Heilmitteln um.

Bewegung im Freien, Genuß der frischen Luft und Aufsuchen der Ruhe in der herrlichen Natur – das sind die Heilmittel, die man heute anpreist. Zu solchen Kuren lockt der Frühling, der mit Blütenschnee die Bäume überschüttet und Wiese und Au mit frischem Grün schmückt. Namentlich die Menschen, die durch ihren Beruf in stauberfüllte, rußige Städte gebannt sind, sehnen sich beim ersten Lenzesnahen ins Freie hinaus. Aber wie schön der Frühling ist, er trügt nur zu leicht. Er, der so mächtig die Lebensgeister weckt, bringt auch Gefahren mit sich. Die Volkserfahrung kennt längst diese Schattenseite der Uebergangszeit vom Winter zum Sommer und ein altes Sprichwort sagt in Bezug auf Schwache und Kranke.

„Was der März nicht will,
Das nimmt der April.“

Und recht hat der Volksmund. Der erwachende Sonnenschein, der vermehrte Genuß frischer Luft, die ausgiebigere Bewegung im Freien sind Reize, die in unserm Körper eine große Umwälzung hervorrufen. Gesunde und Starke werden durch dieselben neu belebt, Kranke und Geschwächte können ihnen nur zu leicht erliegen.

Ferner ist der Frühling unbeständig. Er bringt plötzlich laue Winde und wärmenden Sonnenschein, aber nicht lange dauert diese Herrlichkeit. Auf einmal schlägt das Wetter um, die Temperatur sinkt, ein rauher Wind liegt über die frischen Blüten und Reif und Schnee fallen auf die kaum ergrünte Landschaft. Ein solcher Wettersturz kann aber Erkältungen verursachen, namentlich wenn weniger Abgehärtete ihre Winterkleidung zu frühzeitig gegen eine leichtere vertauscht haben. Die ärztliche Statistik belehrt uns in der That, daß im Frühling Erkältungskrankheiten, Katarrhe aller Art, Luftröhren- und Lungenentzündungen, rheumatische Leiden, besonders häufig vorkommen.

Das sollte jeder beherzigen, am meisten aber der Städter, der durch seinen Beruf mehr oder weniger verweichlicht ist. Der Frühling ist herrlich, aber in dem Genuß seiner Pracht sollte man vorsichtig sein. Frühlingskuren sind von zweischneidiger Wirkung, und wer sich abhärten, seine Nerven kräftigen oder sein Fett verlieren will, der warte damit lieber, bis der beständigere Sommer seinen Einzug ins Land gehalten hat.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_291.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)