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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Wenn der Herr Doktor von seiner Landpraxis heimkehrte, durch den lenzgrünen Schloßgarten fuhr und das kleine Haus vor sich sah, hinter dessen spiegelnden Scheiben der Mädchenkopf sichtbar wurde, dann ward es ihm wieder zu Mute, als sei er noch einmal siebzehn Jahre alt und laufe als schüchterner Primaner einher, und er hatte ebensolches Herzklopfen wie zur Zeit seiner ersten Liebe.

Und er, der ein bißchen sehr flott gewesen war, der sich groß gethan hatte auf der Universität im Punkte der Weiberverachtung, er machte die lächerlichsten Manöver, um einen Blick Aennes zu erhaschen, und da dies immer mißlang, so klammerte er sich mit seinen Wünschen an die Mutter und huldigte ihr in einer so ehrerbietigen Weise, daß er der Frau Medizinalrat als Inbegriff aller männlichen Tugend und Vollkommenheit erscheinen mußte, und daß sie jeden Abend, so ähnlich wie Karoline während der Weihnachtspredigt, betete. „Lieber Gott, laß es doch etwas werden!“

Aenne war recht still geworden und recht blaß, die Unthätigkeit drückte sie zu Boden. Sie hatte in der Zeit der tiefen Trauer auch nicht singen dürfen, nur ein einziges Mal widerstand sie nicht, und da war Frau Rat so fassungslos und erschüttert gewesen von der Pietätlosigkeit der Tochter, daß Aenne den Deckel des Instruments nicht wieder geöffnet hatte.

Tante Emilie litt mit ihrem Liebling, ja sie war ein paarmal auf Leben und Tod mit der kurzsichtigen Schwägerin zusammengeraten. Aber, mein Gott, wer kämpft gegen tief eingewurzelte Vorurteile! In der Trauerzeit durfte man nicht singen, was sollten die Leute denken! So behauptete Frau Rätin.

Aenne klagte nicht, sie machte auch keinerlei Versuche mehr, die Mutter zu überreden. Sie ging im Hause umher, wie wenn sie nie fortgewesen wäre, nie da draußen in der Welt Triumphe erlebt hätte. Aber Tante Emilie sah es und fühlte, wie das Kind seelisch und körperlich litt. Und als es Frühling wurde, da verlor Aenne alle Fassung. „Könnt’ ich nur wenigstens alle Tage eine Stunde lang singen, so recht all meinen Kummer hinaussingen,“ schrieb sie an Fräulein Hochleitner, „es würde mich beruhigen und ermutigen, aber bei Mutter ist Singen identisch mit Jubilieren. Und so lebe ich denn weiter zwischen Nähtisch und Kochherd und mehr oder weniger großen Wäsche und die Jahre meiner Freiheit kommen mir vor wie ein schöner, schöner Traum, aus dem ich schmerzlich erwacht bin. Das einzige, was mir noch blieb, sind meine Spaziergänge, und mitunter laufe ich stundenlang in den Wald hinein, und wenn ich an ein Lieblingsplätzchen komme, ich habe eins auf einer tannenumstandenen Lichtung, dann singe ich und der Frühlingswind nimmt mir die Töne von den Lippen fort, und die dumme Thräne, die ich dabei weine, die trocknet er auch. – –

Mitten in eine Gardinenwäsche hinein – die duftigen Schleier flatterten bläulich weiß auf der Leine im Garten der Frau Rat – kam eine Aenderung. Tante Emilie kehrte von einem Ausgange heim, und den Kopf zwischen ein paar nassen Vorhängen durchsteckend, winkte sie dem Mädchen. Aenne, die im großen Gartenhut aufhängen half, ließ das Stück, das sie eben über die Leine schlagen wollte, wieder in den Korb fallen, kam herüber und folgte der Tante in deren eigenes Stübchen. Zu ihrer Verwunderung fühlte sie, wie die alte Frau ihr einen Schlüssel in die Hand drückte, und den Kopf wegwendend, sagte dieselbe. „Da, mein altes Herze – da – ich konnt’s nicht länger mit ansehen.“

„Was ist denn das?“ fragte Aenne.

„Der Schlüssel zu deinem Musikzimmer“, war die stolze Antwort.

„Aber, Tantchen, sag’ nur – ich verstehe dich gar nicht –.“ „Na, das ist ganz einfach! Ich habe der Förstersfrau auf dem Luisenschlößchen eine Stube abgemietet, sie darf ja vermieten, ob’s nun Sommerfrischler sind oder du es bist, das ist egal. Und aus Brendenburg ist heute früh ein Klavier gekommen: ich hab’s freilich nur geliehen und – na, ich konnt’s nicht mehr mit ansehen, Kind, es ist ja schlimmer als hungern und dürsten, was du leidest! Die Noten sind auch schon unterwegs von Dresden. Und nun schweig’ still gegen Mutter, sonst ist’s aus mit der Herrlichkeit – die Verantwortung übernehme ich.“

Aenne hätte am liebsten aufgeschrieen vor Entzücken, aber sie fiel nur stumm der alten Frau um den Hals – „Du Liebste! du Beste, wie soll ich dir danken! Nachher laufe ich hin – o Gott, welch’ ein wundervoller Gedanke, du Goldtante!“

Wie ein Wind war sie unten und hing ihre Wäsche fertig auf, dann wieder nach oben – das Hauskleid aus, ein anderes an, den Schlüssel in die Tasche! Und den Hut in der Hand ging’s aus der Thür und mit Geschwindschritt über den Schloßplatz, zur Marstallpforte hinein, am Teich vorüber den Berg hinauf! Atemlos klopfte sie oben an die Stube des Försters, eine schmucke Frau öffnete und lachte. „Ja, ja, Fräulein, hier können Sie singen, soviel Sie wollen, hier hört’s keiner und stört Sie keiner, und ich freue mich, ich hör’ zu von weitem! Sie wies auf eine Thür im Hintergrunde des Hausflurs, und als Aenne sie öffnete, da fiel ihr Blick zunächs auf ein Pianino, das schräg ins Zimmer hinein stand, in den Leuchtertüllen steckte statt der Kerzen ein paar Fliedersträuße und auf den wenigen Möbeln des förderlichen Putzzimmers prangten auch überall Blumen. Die Wände waren zart gelblich getüncht, die gewölbte Decke ebenfalls und durch die klaren Scheiben der Fenster brach ein grünlich goldenes gedämpftes Licht, denn dicht vor ihnen wehten Buchenzweige mit hellgrünen köstlichen Blättern, wie sie der Mai bringt.

Eine ganz feierliche, wahrhaft poetische Stimmung überkam das junge Mädchen in diesem einsamen Gemach. Die Förstersfrau war gegangen, aber sie stand außen vor der Thür und lauschte. Und nun zogen Klänge hinaus, süße, wunderbar zu Herzen gehende Klänge, daß sie unwillkürlich die Hände faltete. Ja, das war schön! Das mochte sie leiden, das klang anders, als wenn ihr Mann zur Harmonika brummte!

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht.
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Drum armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden. –“

Dann ihre Lieblinge, Brahms’ wunderbar ergreifende Lieder „Feldeinsamkeit“, „Von ewiger Liebe“, und Lied auf Lied, ein paar Stunden lang. Wie ein Verschmachteter nicht enden kann zu trinken, so sang sie bis in die rotgoldene Abenddämmerung hinein, und zum Schluß ihr altes trauriges Lieblingslied.

„0 du purpurner Glanz der flutenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain,
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein! –“

Nun saß sie, die Hände in den Schoß gelegt, und dachte an ihren traurigen kurzen Liebestraum, an Heinz.

„0 Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!“

Sie hatte ihn nicht wiedergesehen seit dem Begräbnis ihres Vaters, und er hatte ihr nicht die Hand gedrückt wie den andern allen, er war plötzlich verschwunden gewesen.

Die Leute sagten, er sei hochmütig. Frau May nannte ihn „verrückt“, er wisse ja kaum, ob er grüßen solle oder nicht, wenn er mal, was selten genug geschah, über den Platz an ihren Fenstern vorbeiging. Ehemals, da wären sie gut genug für ihn gewesen! Gottlob, an den dachte Aenne nicht mehr.

Doktor Lehmann zuckte einfach die Schultern, wenn die Rede auf Heinz kam, er war jetzt Arzt bei dem kleinen Heini, und Frau Rat interessierte sich brennend für die alten Patienten ihres seligen Mannes, aber so zuvorkommend der Doktor auch sonst war, hierüber schwieg er wie ein Grab. Heinz lebte da oben mit seinem Kinde, weiter wußte Aenne nichts.

Sie stand endlich auf, schloß das Fenster und das Klavier und schickte sich zum Heimweg an. Herrgott, drei Stunden hatte sie hier versäumt, und drunten wartete die Mutter und die Wäsche! Sie reichte der Frau Försterin, die ihr vor der Thüre entgegenkam, die Hand, rief ein „Auf Wiedersehen!“ und lief davon wie gejagt.

(Fortsetzung folgt.)0


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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_282.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)